Angstblüte (German Edition)
die liebenswürdigsten Menschen der Welt. Er schaute aus seiner grauen Eingewachsenheit heraus wie aus einer Grotte, sie suchte andauernd nach Möglichkeiten, etwas für andere zu tun. Meschenmosers würden ihn, wenn er bei ihnen nachfragte, nicht mehr gehen lassen. Es war gleich sechs, sollten Erewein und Frau Lotte um sieben zurückerwartet werden, würden Meschenmosers verlangen, daß Karl so lange bei ihnen säße.
Karl stand vor dem kleinen Schaufenster, das Erewein aus zwei Wohnzimmerfenstern gewonnen hatte. Um das Schaufenster herum hatte er einen bayerischen Barockrahmen gemalt und darüber geschrieben: Das Atelier YZ. In Buchstaben der Sütterlinschrift. Im Schaufenster stellte er immer das jüngste Werk aus. Kopierte Meister, Originale, Fotos, auch von ihm selbst Geschnitztes. Weil Erewein mehr als einmal gesagt hatte, er geniere sich für das ganze Ateliergetue, war Karl jedesmal froh, daß es das Schaufenster noch gab. Und wie! Ein einziges Bild füllte jetzt das ganze Schaufenster aus. Erewein mußte es für sein Schaufenster gemalt haben. Nichts als Maiglöckchen, Hunderte oder Tausende von Maiglöckchen, gehalten von ihren tiefgrün glänzenden Blättern. Der Blätterglanz war bis zur Unheimlichkeit gemalt. Die Maiglöckchen wirkten dagegen matt. Sie wußten nichts von den grellen Blättern. Sie waren die Gefangenen der gleißenden Blätter. Karl schüttelte unwillkürlich den Kopf.
Was mit Diego passiert war, konnte er Erewein telefonisch mitteilen. Erewein hatte auf der Gartenseite des Hauses eine Werkstatt, in der er für Diego restaurierte. Alles, von Möbeln bis zu Bildern. Erewein hatte zuerst geheiratet, dann hatte er Medizin studiert, war Facharzt für Urologie geworden, weil Frau Lottes Vater zusammen mit einem Dr. Petöfi eine Urologie-Praxis plus Dialyse-Station betrieb und Frau Lotte, das einzige Kind, lieber Kirchenmusik als Urologie studierte. Also sollte Erewein antreten. Als Erewein so weit war, daß er in der Praxis hätte anfangen können, merkte er, daß er nicht so weit war, wie er jetzt hätte sein sollen, und daß er nie so weit sein würde. Zum Glück hatte Dr. Petöfi zwei Söhne, sozusagen geborene Urologen, Lotte erbte also. Erewein, der nie eine einzige kunstgeschichtliche Vorlesung gehört hatte, fing an zu malen, zu fotografieren, zu restaurieren. Er war ein leidenschaftlicher Autodidakt. Er wollte beweisen, daß man sich alles selber beibringen könne. Es gab offenbar nichts, was er seine Hände, seine Augen nicht zu lehren vermochte. Am liebsten kopierte er die Bilder alter und neuerer Meister. Von Siena bis zum Blauen Reiter. In seinem Viertel bekannt wurde er durch seine Tierbilder. Wem ein Hund starb, der kam mit einem Foto zu Erewein, Erewein malte den Hund und rahmte das Bild. Und signierte immer mit YX. Man nahm’s für eine Marotte. Als Karl das letzte Mal bei Erewein gewesen war, es war am 26. Dezember, dem Todestag ihres Vaters, da kopierte Erewein gerade das Bild, das Raffael von sich gemalt hatte, als er Anfang Zwanzig war. Jetzt stell dir vor, hatte Erewein gesagt, ich müßte hoffnungslosen Nierenkranken ihre verfaulenden Zehen absäbeln, statt diesen göttlichen Buben zu malen. Schau, wie er mich anschaut. Hatte er gesagt. Für Frau Lotte, die er, wenn er von ihr sprach, immer Frau Lotte nannte, und das so nachhaltig, daß jeder, der von ihr sprach, sie Frau Lotte nannte, für sie hatte er, als sie die Kirchenmusik pfarrherrlicher Intrigen wegen nicht mehr ausüben konnte, eine Hausorgel gebaut. Drei Jahre hatte er dafür gebraucht. Dann mußte Frau Lotte, wenn sie Orgel spielen wollte, nirgends mehr betteln, mußte das Haus nicht mehr verlassen. Das war eigentlich der Sinn aller Arbeiten Ereweins: daß Frau Lotte und er das Haus nicht mehr verlassen müssen. Nicht ein einziges Mal waren Frau Lotte und Erewein drüben bei Karl und Helen in der Osterwaldstraße gewesen. Wer die zwei sprechen wollte, mußte nach Haidhausen, in die Steinstraße, kommen.
Karl glaubte, alles, was Erewein tue und was er unterlasse, habe einen Grund. Im Mai 1945. Einmal war er mit Erewein gewandert. Im April 1968. Ende April. Sie erwanderten Karls Hausberg, den Wank. Gerade war Rudi Dutschke niedergeschossen worden, Vietnam wurde mit Napalm und Phosphor übersprüht. Erewein fing vom Mai 45 an. Ausführlich. Drei Russen waren auf ihn und seine Leute zugekommen – er war Leutnant –, um ihn und seine Leute gefangenzunehmen. Er und seine Leute hatten ihre Waffen
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