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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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andere als unverblümt. Er war verblümt. Verblümt bis ins Innerste und Äußerste. Aber er wollte sich nichts mehr vorwerfen. Weder das, was er tat, noch das, was er nicht tat. Er wollte endlich sein, wie er war, und nicht, wie er sein sollte. Im Alter nimmt Verschiedenes ab. Auch die Kraft, moralisch zu sein. Oder sich so zu geben.
    Die geschlechtliche Neugier ist ohnehin unabhängig von Sitten. Trauer, Freundschaft, Tragödie, dem diesbezüglichen Appetit ist es egal, der tendiert einfach. Er war jetzt öfter bereit zu glauben, kein Mensch sei moralisch, alle täten nur so. Vor allem schriftlich. Er hatte immer so getan, als ob er anständig sei. Und das ging nicht, ohne dann und wann wirklich anständig zu sein. Er war das, was Gundi verkündete, ohne daß sie es war. Er war haltlos. Sie tat nur so. Fernsehen! Selbst wenn sich einer im Fernsehen erschießen würde, er wäre nicht tot. Diego … Hör auf mit Diego.
    Bei Diego war jede winzige körperliche Bemerkbarkeit für den Anfang einer endgüligen Krankheit gehalten worden. Er redete am Telefon ununterbrechbar über eine unerklärliche Trockenheit in der Mundhöhle anstatt über das, was Karl von ihm wissen wollte. Hoffentlich war diese neueste Lähmung wieder so eine übersteigerte Selbstwahrnehmung. Hoffentlich, dachte Karl.
    Er rief noch vor Haidhausen die Firma an.
    Berthold Brauch hatte schon gehandelt. Die zwei Kunden, die darauf warteten, Puma zu verkaufen, hatte er schon informiert. Karl entschuldigte sich.
    Wofür denn, fragte der Partner.
    Daß er geglaubt hatte, Herr Brauch habe abends kurz vor sechs noch nicht reagiert auf eine solche Nachricht. Und fragte noch, ob es bei dem Halbachttreff bleibe.
    Dr.   Herzig bereite im Konferenzraum schon die Charts-Präsentation vor, sagte Herr Brauch, und Frau Lenneweit verfälsche die Tafel ins Festliche.
    Angenehmer als dieser Herr Brauch konnte niemand sein. Karl hatte seinen Partner sogar im Verdacht, der lege es förmlich darauf an, angenehm zu sein.
    Karl rief noch schnell Severin Seethaler an. Morgen Power Lunch im Carlton, geht das? Thema: Puma für 1,2 Millionen. Falls die durch die Rückkaufaktion der Firma nicht schon zu sehr gestiegen sind.
    Herr Seethaler sagte, was er immer sagt, wenn eine größere Transaktion in Sicht ist, es handle sich offenbar um einen seriösen Spaß. Er habe in der letzten Stunde das Gefühl gehabt, er müsse noch am Schreibtisch bleiben, ohne daß er gewußt habe, warum. Jetzt wisse er es. Und er freue sich.
    Alles, wozu man eine Bank braucht, wurde für von Kahn und Partner beim Bankhaus Metzler besorgt, vorne am Odeonsplatz, keine fünf Minuten vom Montgelaspalais weg, und dort von Severin Seethaler, einem Mann von unverbrauchbarer Freundlichkeit. Die Telefongespräche mit ihm waren, weil Seethaler dieses Freundlichkeitstalent hatte, nicht leicht zu beenden. Sie hätten eigentlich überhaupt nicht aufhören müssen. Immer kam der Aufhöranlaß von außen. Moment, ich muß jetzt aufhören, ein Terroranschlag, ich muß mich um die Börse kümmern.
    Er hatte nicht vorgehabt, nach Haidhausen in die Steinstraße zu seinem Bruder zu fahren. Aber es war Anfang Mai. In der ersten Maihälfte war ihm sein Bruder gegenwärtiger als in jeder anderen Jahreszeit. Wenigstens noch schnell reinschauen. Seit Weihnachten hatten sie einander nicht mehr gesehen. Und Erewein meldete sich nie. Man mußte ihn anrufen, ihn besuchen. Rief man ihn an, ließ er einen merken, daß man ihn nur anrief und nicht besuchte. Also, bitte, jetzt besuchst du ihn. Eineinhalb Stunden sind noch drin.
    Als er in der Steinstraße aus dem Taxi stieg, erlitt er einen Anfall von Illegitimität. Er wurde beherrscht von dem Gefühl, er dürfe den Boden nicht mehr berühren. Diese öffentliche Straße, den Bürgersteig. Ganz schnell hinein in das schmale Haus seines Bruders. Der Boden des Bruders ließ sich als Asyl empfinden. Aber bevor er die Haustür erreichte, kriegte er noch eine Dusche Lokales. Eine Frau redete auf einen Mann ein, der zu ihr, da sie größer war, aufschaute. Brez’n und Kartoffisolad, Brez’n is ned so deins, muaßd du net hom … Dann waren sie vorbei, und er war bei der nie abgeschlossenen Haustür seines Bruders. Aber heute war sie, zum ersten Mal, abgeschlossen.
    Sicher wüßten Meschenmosers, die nächste Haustüre rechts, wo Erewein und Frau Lotte waren, wann sie zurückkommen würden.
    Erewein und Frau Lotte lebten in vollkommener Harmonie mit Meschenmosers. Meschenmosers waren

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