Angstblüte (German Edition)
weggeworfen, hatten ihre Hände erhoben, die drei Russen hatten sich ungeschützt genähert, es war ja der 9. Mai, aber Erewein war jäh klargeworden, russische Gefangenschaft, das war ein halbes Todesurteil, also zog er in letzter Sekunde seine Pistole, die hatte er nicht weggeworfen, er wollte sich – das war der Vorsatz – lieber selber erschießen, als in russische Gefangenschaft zu geraten, aber jetzt erschoß er nicht sich, sondern drei Russen. Und die waren alle drei jünger als er. Einundzwanzig war er. Dann ab durch die Wälder. Noch vor Passau fanden sie Amerikaner, von denen sie sich gefangennehmen lassen konnten. Seine Pistole hatte er einem kriegsversehrten Bauern gegeben, bei dem sie im Heu übernachtet hatten. Erst im Gefangenenlager kehrte zurück, was passiert war. Ihm passiert war. Einmal hatte er zu Karl gesagt, als er die Russen sah, sei er vom Schock geschlagen worden. Lebensanfang, das habe er gerade noch empfunden. Wie ein Fieber. Lebensanfang. In ihm sang es Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus, da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus. Und jetzt die Russen.
Erewein war am 17. Mai geboren. Seinen Geburtstag zu feiern, etwa den fünfzigsten, sechzigsten oder siebzigsten, hat er immer abgelehnt. Karl hatte also gar nicht mehr versucht, bei Erewein oder Frau Lotte zu fragen, wie der achtzigste gefeiert werden sollte. Karl hat Erewein zu jedem Geburtstag geschrieben, kurz, aber mit deutlicher Empfindung. Erewein hat jedesmal zurückgeschrieben. Ausführlicher, erzählerischer, erinnerungsträchtiger. In einer innigen Tonart. Jedesmal hat Karl gedacht: Bruderliebe gibt es. Da Erewein das Maiereignis bis jetzt nur erwähnt hatte, wenn er mit Karl allein war, mußte Karl annehmen, er sei der einzige, dem Erewein gesagt hatte, was geschehen war, was er getan hatte. Von sich aus hätte Karl den Vorfall nie erwähnt. Aber dreimal in einem halben Jahrhundert hat Erewein selber davon angefangen. Das erste Mal hat er noch berichtet. Die nächsten zweimal war es nur noch ein Du-weißt-schon. Jedesmal mit dem Satz: Zum Überlegen blieb keine Zeit. Und: Meine Leute mußten mich wegziehen.
Die Pistole hat er bei dem Bauern, dem er sie gegeben hatte, wieder geholt. Aber Frau Lotte hat er das verheimlicht. Er hatte herausgebracht, daß Frau Lotte nicht in einem Haus leben konnte, in dem eine Waffe herumlag.
Erewein sprach nie von sich aus. Frau Lotte führte das Gespräch. Erewein bejahte, was sie sagte, durch Kopfbewegungen, er schien froh zu sein, daß seine Frau den Verkehr mit der Welt besorgte. Helen, die Hochstudierte, entdeckte in Ereweins Gesicht ein Stigma. Einen Leidenszug. Eine Art Entstellung. Nicht lokalisierbar, im ganzen Gesicht mehr spürbar als sichtbar.
Helen sagte, Erewein leide nicht darunter, daß er weniger erfolgreich sei als Karl.
Was nennst du erfolgreich, fragte Karl.
Er verdient so viel weniger als du, sein Haus ist so viel …
Mein Haus ist dein Haus, unterbrach Karl.
Ereweins Leiden, sagte sie, ist die Lebenserfolglosigkeit vom Maidrama an.
Jedesmal, wenn davon die Rede war, erinnerte sie an ihren Vater. 1944 in Holland von den Engländern gefangen genommen, nach Olham transportiert, dicht bei Manchester, ein Lager mit sechshundert Gefangenen, an Weihnachten 45 werden zweihundert ausgelost, die sind eingeladen von englischen Familien, Helens Vater ist nicht unter den Gewinnern, er arbeitet am Abend noch in der Kleiderkammer, da kommt der Lagerkommandant vorbei, Korvettenkapitän a. D. Jack Parson, der nimmt den Vater mit zu sich heim, eine Freundschaft ist geboren, die vierzig Jahre lang lebendig bleibt, Besuche hin und her, der Vater wird in Olham in der Zeitung abgebildet, wenn er bei Jack ist, bis beide tot sind. So fing das Leben ihres Vaters nach 45 an. Von Anfang an hell. Und Erewein? Das Stigma der Lebenserfolglosigkeit.
Das Handy spielte sich auf. Es war Daniela. Er sollte bedauern, daß er den Termin heute abgesagt hatte. Er bedauerte. Mehr, sagte sie, glaubwürdiger. Er soll sagen, es schmerze ihn und besonders in einer Körpergegend schmerze es ihn, daß sie einander heute nicht sähen, nicht küßten, nicht undsoweiter. Also morgen.
Er deutete an, daß morgen nichts möglich sei. Sobald er auch nur den Hauch einer Hoffnung hat auf einen neuen Termin, ruft er sie an.
Die Welt muß von einem Moralisten erfunden worden sein, dachte er. Je weniger du liebst, desto weniger hast du davon, geliebt zu werden. Darum steigerte er sich dann doch in
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