Angstblüte (German Edition)
nicht ohne Grund von seiner Unwiderstehlichkeit überzeugt und will dazu noch seinen Rudi-Rudij mitbringen, der ein Dramaturg und ein Genie sein soll.
Weil er so locker war, kam er ohne jene auch noch den virtuosesten Lügner antastende Verklemmtheit aus dem Haus. Und so locker war er, weil nichts passiert war und auch nichts passieren würde.
Joni Jetter, Traumfrucht.
In Wirklichkeit gibt es keine Joni Jetter, dreiunddreißig, nominiert für die beste Nebenrolle, die ihn zuerst so anschaut und dann so anruft. Sommerfieber, sonst nichts. Also konnte er aus dem Haus, als habe er einen Termin beim Steuerberater. Aber als er in der S-Bahn saß, hielt sich diese Stimmung nicht. Immerhin hatte er noch Benedikt Loibl angerufen und zuerst von der kanadischen Immobilie gesprochen. Er hatte gestern vergessen, sich Loibls Urkunde zeigen zu lassen. War er als Kommanditist dabei oder als Anteilseigner nach bürgerlichem Recht? Wenn letzteres, dann könnte daraus schlimmstenfalls eine Haftung mit dem Gesamtvermögen folgen. Loibl sagte, das wisse er nicht aus dem Kopf, wie er da dabei sei. Gut, Karl von Kahn kommt heute noch einmal hinaus und schaut sich das an. Kann sein, er übernachtet dort. Die Kronprinzen-Suite wäre erwünscht.
Wenn sie nicht frei ist, wird sie freigemacht, sagte Loibl. Vermutlich dachte er, Karl komme mit Daniela.
Karl von Kahn war immer zu früh auf dem Bahnsteig. Besetzt waren die Drahtkörbe von Leuten seines Alters. Alle reglos geradeaus starrend. Die Kästen, die anzeigen sollten, wann und wohin der nächste Zug fahre, waren zeichenlos weiß. Es war ja auch klar, daß diese alten Leute nirgends mehr hinfahren wollten. Er setzte sich auf die Steinfassung eines Blumenrechtecks. Dann kam ein Zug, der angezeigt wurde, und noch ein Zug. Die Alten rührten sich nicht. Die ließen die Züge halten und wieder abfahren. Erst als die S-Bahn nach Herrsching einfuhr, lösten sie sich aus ihren Sitzen und stiegen ein. Offenbar fuhren nach Herrsching nur Leute, die so alt waren wie er. Jünger war keiner. In der Bahn saßen sie so stumm wie vorher draußen. Er konnte sich sorglos zwischen diese Leute setzen, die würden ihn nicht fragen, wie spät es sei, oder gar, ob er wisse, warum es aufgehört habe zu regnen. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte gesagt: Liebe Brüder und Schwestern, von mir könnt ihr alles erfahren. Vor allem aber sage ich euch: Ich bin guter Dinge.
Die S-Bahn schob ihn dann doch richtig auf Joni Jetter zu. Was durfte er als Vorstellung zulassen, was mußte er sich verbieten? Verbieten? Was ist denn das für ein Wort? Er wußte nicht mehr, was das heißt, verbieten. Ein Fremdwort. Er merkte, wie sich in der unteren Mitte Wärme sammelte, wie da Wärme zusammenfloß, wie das Geschlechtsteil anfing, sich von seinem Umfeld zu unterscheiden.
Geschlechtsteil. Schon wieder so ein sinnloses Wort. Wenn es wenigstens der Geschlechtsteil hieße. Das Teil! Über manche Wörter durfte man nicht nachdenken. Das bekam denen nicht. Wenn das das Geschlechtsteil ist, was ist dann das Ganze? Ein Wort, als wäre es bei einer Aufsichtsratsitzung entstanden. Am liebsten hätte er sich an seine Brüder und Schwestern gewendet. Wie findet ihr das: Geschlechtsteil? Eine S-Bahn voller siebzig- bis achtzigjähriger Männer und Frauen macht sich lustig über das Wort Geschlechtsteil.
Heute kein Spaziergang vom Bahnhof hinaus und hinauf zum Kronprinz, sondern mit einem Taxi. Da Loibl die Küche regieren mußte, brachte ihn Graf Josef in die Suite. Graf Josef ließ sich so nennen, wurde von Loibl so vorgestellt, war dabei von Anfang an und hatte bei Loibl offenbar jede familiäre Funktion übernommen. Ein schmaler, leiser, alles wahrnehmender und alles Wahrgenommene andauernd kommentierender Chefportier. Die goldenen Schlüssel an seinem sattgrünen Revers waren so theatralisch wie der ganze Mensch. Wäre er laut gewesen, hätte man ihn nicht ertragen. Er hat wohl bemerkt, daß er nur durchkommt, wenn er seinem Redezwang auf die leiseste Art nachgibt. Von heute aus gesehen, dachte Karl, ist Graf Josef ein Rapper. Vielleicht reimte sich sogar, was er andauernd von sich gab. Einem deutlichen Rhythmus folgte es auf jeden Fall. Und klang melancholisch. Sogar Josefs Augen und Mund standen im Dienst der Melancholie, dazwischen allerdings eine ordinäre Nase mit riesigen Nasenlöchern. Zu Karl von Kahn hatte er in seinen leisen Textstrom einmal eingefügt, und das wahrscheinlich wegen Karls «von»: Herkunft
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