Angstblüte (German Edition)
daß sie sich getäuscht hat, in die letzte Reihe, der Museumspädagoge hat ihren Eintritt mit einer großen Geste gutgeheißen, redet weiter, kommt nachher auf sie zu, sie sagt immer noch nicht, daß sie hier falsch sei, alle anderen sind schon fort, sie kann, wenn sie will, in seine Sprechstunde kommen, er berät sie gern, sie geht hin, er berührt sie am Oberarm. Es war seine Stimme, nicht das, was er sagte. Durch ihre Ohren ist sie noch zugänglicher als durch ihre Augen. Das muß ein Konstruktionsfehler sein bei ihr, diese Zugänglichkeit durch die Ohren. Zwei Wochen später lag sie in seinem Bett. Sorgfältigster Beischlaf. Endlich Zukunft. Sobald die Frau zuverlässig aus dem Haus ist, ruft er sie. Zum Vögeln. Sie hat, so gut es ging, mitgevögelt. Immer mit Frikadellen und Mumm extra dry. So lange nichts, und jetzt diese Aufmerksamkeit! So willkommen hat sie sich noch nie fühlen dürfen. Jedesmal entdeckten sie aneinander etwas Neues. Sie konnte endlich reden. Dem gefielen ihre Rücksichtslosigkeiten. Angeblich habe ihn vor ihr noch keine Frau so zum Lachen gebracht. Er stellte immer einen Spiegel vors Regal, gerade groß genug, daß sie die entscheidenden Partien mitkriegten. Das mußte doch überhaupt nicht mehr aufhören. Echt, sie sah sich schon als Gattin. Natürlich unter aufklärerischer Flagge gesegelt. Beziehungsweise gevögelt. So dumm muß man sein können. In den Ferien gab es ihn nicht. Und nach den Ferien auch nicht mehr. Sie sah, welche er jetzt am Oberarm berührt hatte. Das sah man der an. Die Lehre: Es gibt immer eine Nachfolgerin.
Also abgehauen. Geflohen. Kotzunglücklich. Und nichts gelernt, womit auch nur eine Mark zu verdienen war. Zuerst im Etikette gejobbt, dann im Raus, Frühschicht sechs bis dreizehn, Nachtschicht siebzehn bis drei. Wird dann immer vier. Jetzt also Dostojewskij. Der muß gerochen haben, daß sie es jetzt düster brauchte, schwermütig, tragisch. Vater Finne, Mutter aus Sibirien. Der sagte: Mit mir nur ganz oder gar nicht. Aber ja, rief es in ihr, ihm entgegen, aber ja! Der kam auf sie zu, als wate er tief im Schnee, machte dicht vor ihr halt, zog etwas Pelziges aus der Tasche seines fast bis zu den Knien reichenden dunkelgrünen Kittels, hielt ihr das Pelzige hin und sagte: Diesen Nerzschal von meiner Großmutter kann niemand tragen außer Ihnen. Er habe Joni lange beobachtet, deshalb wisse er, nur sie kann den Großmutternerzschal tragen. Bühnenbildner mit Regieambition. Wenn er nachts redete, war er der Intendant oder würde es doch gleich werden. Sie sollte glücklich sein, daß er noch rechtzeitig gekommen sei, sie aus ihrer verpfuschten Kindheit und Jugend zu erlösen. Das gehe nur sexuell. Sie müsse ihre Identität in der Sexualität entdecken und entwickeln. Von da aus dann zur Schauspielkunst. Die Schauspielkunst sei nichts anderes als angewandte Sexualität. Zuerst aber die Zertrümmerung der katholischen Kleinbürgerin. Besonders die Kirche war ihm verhaßt. Was die sich herausnimmt, so ein schönes Mädchen bis ins Innerste zu verbiegen, bis zur Lebens- und Liebesunfähigkeit zu verkorksen.
Sie mußte dem Dienste leisten, physische und verbale, die zu nichts dienten als zu ihrer Erniedrigung. Zuerst hielt sie alles, was er mit ihr machte, für Hingabe seinerseits. Sie fühlte sich entdeckt. Als sie in der Theaterkantine eine vom Ballett mit Nerzschal sah, ging sie zu der hin und fragte, ob sie das Nerzding von Dostojewskij habe. Dostojewskij war sein Spitzname, den er selber pflegte. Das Ballettmädchen sagte schlicht: Von seiner Großmutter.
Wieder geflohen. Show Service in der Westfalen-Halle, acht Mark die Stunde, Catering, Verkaufsveranstaltungen von Müller-Meerkatz, Amway USA, Auszeichnung der erfolgreichsten Vertreter mit Diamantnadeln erster, zweiter und dritter Klasse, die hasteten dann selber ans Mikro und kamen auf die Großleinwand, fünfhunderttausend kostet die Veranstaltung, fünfundzwanzig Eintritt für die zwölftausend Kleinverkäufer von Seife, Elektro-Artikeln und so weiter. Am Mikro und auf der Leinwand die großen Bekenntnisse, die Erfolgsrezepte, eine heult selber vor Ergriffenheit, weil sie nicht in die Disco gegangen ist.
Weiter geflohen. Zu den Johannitern, Rettungsflugwacht, von Tür zu Tür, keine Scheu, der Oma, die dreihundertzwanzig im Monat hat, eine Unterschrift abzupressen, die muß ein Jahr zahlen, dann kann sie weg, der Werber kassiert den Monatsbeitrag mal vier, das Schlimmste war die Johanniter-Tracht, die war
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