Angsthauch
ist wie eine Schwester für mich«, sagte Rose und zählte ihre Argumente an den Fingern ab. »Wir haben alles zusammen gemacht, bis wir dich und Christos kennengelernt haben. Und jetzt ist Christos tot. Sie steht mit ihren zwei Kindern ganz allein da, sie möchte zurück nach England, und es gibt niemanden, bei dem sie unterkommen könnte. Ich weiß nicht mal, ob sie überhaupt Geld hat.«
Eine Zeitlang schwiegen sie. Der Abend war zu kalt, um im Freien zu sitzen, und trotz der warmen Jacke und des Schutzes, den die Weide bot, fröstelte Rose.
»Mann«, sagte Gareth. »Christos ist tot. Ich fasse es nicht. Scheiße.«
»Er wird mir so sehr fehlen«, murmelte Rose.
»Mir auch.«
Rose legte den Kopf an seine Schulter.
»Ich möchte, dass wir zusammenhalten«, sagte sie nach einer Weile.
Sie wollte nicht noch einmal das Gleiche durchmachen müssen wie bei ihrer zweiten Schwangerschaft, als sie ständig den Eindruck gehabt hatte, dass Gareth sie nicht nur mit dem Baby allein ließ, sondern auch mit Anna. Es hatte ihr Angst gemacht, dieses Gefühl der Einsamkeit. Die nicht enden wollenden Arbeiten am Haus und das stürmisch nasse englische Wetter waren Gareth aufs Gemüt geschlagen. Er war groß, mit breiten Händen, dichtem Haar und starken Beinen, aber in der Zeit war er Stück für Stück geschrumpft, und zwar im gleichen Maße, wie Roses Bauch gewachsen war. Natürlich hatte sie trotz der Schwangerschaft darauf bestanden, ihren Beitrag zu den Bauarbeiten zu leisten, und der war nicht unerheblich gewesen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihr ständig alles weh getan hatte. Ihr verbissener Optimismus, der ihr zuvor immer durch alle Schwierigkeiten geholfen hatte, war fast aufgebraucht gewesen.
Alles war ihr vollkommen hoffnungslos erschienen, bis plötzlich – zwei Wochen zu früh – das Baby zur Welt kam.
Die Geburt dauerte nur zwei Stunden, so dass sie keine Zeit mehr hatten, ins Krankenhaus zu fahren. Andy und Gareth – den die Dringlichkeit des Ereignisses aus seiner Depression gerissen hatte – hatten das Kind mit telefonischer Unterstützung von der Rettungsleitstelle selbst entbunden.
Von der Sekunde an, als das Baby in seine ausgestreckten Hände glitt, war Gareth wie verzaubert. Er verkündete, dass seine neue Tochter Flossie heißen solle – nicht wie abgemacht Olivia, ein Name, den Rose aus einer langen Liste ausgewählt hatte. Aber sie war so erleichtert über Gareths plötzlichen Gesinnungswandel, dass sie auch mit Wiesel oder Fischgesicht einverstanden gewesen wäre.
Diese neu erwachte Freude hatte sie beide durch die letzte Phase der Bauarbeiten getragen – Installationen, Malerarbeiten, die Auswahl der Farben und Bodenbeläge –, hinein ins fertige Haus, wo nun ein Leben in Klarheit und Ordnung beginnen konnte. Es gab für alles einen Schrank; die Regale waren ausschließlich Büchern, Gegenständen des täglichen Gebrauchs und besonderen Schmuckstücken vorbehalten. Sie hatten Platz – endlich. Es war herrlich, nicht mehr ihre komplette Existenz in eine Zweizimmerwohnung ohne Garage und Dachboden quetschen zu müssen, wie es in Hackney der Fall gewesen war. Darüber hinaus war ihr neues Heim etwas ganz Besonderes: Sie hatten gehämmert und gesägt und geschwitzt, um es zu bauen. Der Frühling stand vor der Tür, und bald würde die Sonne wieder scheinen. Ein Ausnahmesommer wurde vorhergesagt.
Rose war sich bewusst, dass ihre Einladung an Polly das Gleichgewicht bedrohte, aber sie wusste auch, dass weder sie noch Gareth wirklich eine Wahl hatten. Und sie war sich relativ sicher, dass er es genauso sah.
»Pass auf«, sagte sie. »Sie werden ja nicht ewig bleiben, und wenn es nicht läuft, können wir sie jederzeit bitten auszuziehen. Es ist doch nur für eine Weile, bis sie sich hier wieder eingelebt haben, länger nicht.«
Die Atmosphäre in ihrem Weidenversteck veränderte sich. Ganz, ganz langsam breitete sich ein Lächeln auf Gareths Gesicht aus, und da wusste sie, dass alles gut werden würde.
»Klar«, meinte er. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie du ihr sagst, sie soll ausziehen. Du hast ein viel zu weiches Herz, Rose. Du kannst nie nein sagen und bist ständig auf der Suche nach jemandem, um den du dich kümmern kannst.«
»Deswegen habe ich mir dich ausgesucht«, erwiderte sie, und er zog sie an sich.
»Aber im Ernst, Rose. Wenn es nicht funktioniert, werfe ich sie raus, und dann lasse ich mich auf keine Diskussion mit dir ein,
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