Angsthauch
verstanden?«
»Verstanden«, sagte sie und schmiegte sich an ihn. »Außerdem kann doch jetzt nichts mehr zwischen uns kommen, stimmt’s?«
»Stimmt«, antwortete er und ließ einen Stein übers Wasser schnellen, so dass er viermal die Oberfläche berührte.
3
E rzähl mir eine Geschichte von früher, als du noch klein warst.«
Zwei Wochen waren vergangen. Anna hatte sich neben Rose zusammengerollt. Manky, der alte Kater, lag ausgestreckt quer über ihnen und schnurrte wie eine motorbetriebene Heizdecke.
»Habe ich dir schon erzählt, wie Polly und ich uns kennengelernt haben?«, fragte Rose.
»Nein.«
»Willst du die Geschichte hören?«
»Ja!«
Sie hatten es sich auf dem Bett im Elternschlafzimmer gemütlich gemacht. Schon jetzt war dies Annas Lieblingsplatz für Gutenachtgeschichten. Das Zimmer lag ganz oben unterm Dach, dessen Richtfest für Flossies Existenz verantwortlich war. Die von Eichenbalken gestützten schrägen Decken – hoch genug, dass man überall stehen konnte, außer ganz am Rand – erweckten den Eindruck, man befände sich in einer Umarmung, und das gedämpfte, warme Licht gab einem das Gefühl, wohlbehütet zu sein, selbst an einem stürmischen Abend wie diesem.
»Also gut. Als ich sechs war – so alt wie du jetzt –, habe ich in einem großen Haus gewohnt. Es lag am Meer, aber trotzdem mitten in der Stadt.«
»Das war in Brighton.«
»Ganz genau. Das Haus, in dem ich gewohnt habe, war gleichzeitig ein Gästehaus.«
»Das weiß ich doch schon!«
»Also gut.«
»Aber was ist das eigentlich, ein Gästehaus? Ein Haus für Gäste – so wie bei uns das Nebengebäude?«
»Nicht ganz, es ist eher so was wie ein Hotel. Meine Eltern – deine Großeltern – haben Zimmer an Leute vermietet, die in Brighton Urlaub machten oder auf Geschäftsreise waren. Morgens haben sie ihnen in einem großen Raum im Keller Frühstück serviert. Die Leute haben dafür bezahlt. Das war harte Arbeit für deine Großeltern. Die Gäste kamen und gingen, die meisten sind höchstens für ein paar Nächte geblieben.«
»Hast du gern da gewohnt?«
»Soll ich dir was sagen? Eigentlich nicht. Ständig ist man auf der Treppe irgendwelchen Fremden begegnet, die gewartet haben, dass das Klo frei wurde, oder die irgendwas brauchten oder sich beschweren wollten.«
»Das hätte ich echt blöd gefunden.«
»War es auch. Aber ich kannte es ja nicht anders. Deine Großeltern hatten sehr viel zu tun, deswegen war ich die meiste Zeit allein.«
»Klingt ziemlich langweilig.«
»Stimmt. Und einsam. Mir ging es nicht so gut wie dir, ich hatte keine Schwester zum Spielen. Es gab überhaupt keine anderen Kinder, nur mich. Deine Großeltern wollten keine Kinder im Haus haben.«
»Warum nicht?«
»Ach, na ja – wegen des Lärms und der Unordnung. So was konnten sie nicht ausstehen.«
»Die müssen ja schlimm gewesen sein.«
»Aber am Meer zu wohnen war schön. Ich bin jeden Tag an den Strand gegangen, auf dem Weg zur Schule.«
»Du bist allein zur Schule gegangen, oder?«
»Ja. Aus dem Haus raus und dann links, über den Zebrastreifen, dann runter zum Strand. Ich bin immer unter dem Pier entlanggegangen, obwohl ich das eigentlich gar nicht durfte.«
»Ich würde auch gern allein zur Schule gehen.«
»Dazu bist du noch zu klein. Heutzutage ist es gefährlicher.«
»Wieso durftest du nicht unter dem Pier langgehen?«
»Das ist eine andere Geschichte. Eigentlich wollte ich dir doch erzählen, wie toll das Meer war. Es sah jeden Tag anders aus. An manchen Tagen war es ganz glatt, wie Seide. Aber wenn es in der Nacht einen Sturm gegeben hatte, so wie heute Abend, dann war das Wasser am nächsten Morgen ganz aufgewühlt. Die Wellen sind bis hoch an den Strand geschwappt, als wollten sie einen umreißen, wenn man oben auf den Kieseln entlangging. Das mochte ich immer am liebsten. Ich habe dem Meer die Zunge rausgestreckt und bin jeder Welle hinterhergelaufen, wenn sie zurückging, und wenn dann die nächste kam, bin ich ganz schnell wieder weggerannt. Aber einmal hat mich doch eine erwischt, und ich kam klatschnass in der Schule an. Meine ganzen Hausaufgaben waren verdorben. Die Lehrerin hat mit mir geschimpft, und die anderen Kinder haben mich ausgelacht. Und ich habe furchtbar gefroren. Dann hat die Lehrerin gesagt, wir würden eine neue Mitschülerin bekommen, und ein kleines, abgemagertes Mädchen in die Klasse geführt. Das Mädchen hatte ganz strubbelige schwarze Haare, und wieder haben alle angefangen
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