Angsthauch
1
A ls Rose erfuhr, dass Christos gestorben war, überlegte sie nicht lange: Polly und die Jungs mussten zu ihnen ziehen. Sie und Gareth hatten jetzt genug Platz, und Polly war ihre beste Freundin seit der Grundschule. Es war völlig klar: Sie mussten kommen und bei ihnen wohnen, und Rose würde sich um sie kümmern.
Der Anruf erreichte sie am letzten Tag im Februar. Anna und die kleine Flossie schliefen bereits. Rose und Gareth hatten gerade am Küchentisch eine Kerze angezündet und eine Flasche Wein geöffnet. Die ganzen zweieinhalb Jahre, die sie mit der Renovierung ihres Hauses in den Hügeln von Wiltshire verbracht hatten, war ihnen die Vorstellung eines solchen abendlichen Rituals nicht aus dem Kopf gegangen. Jetzt, knapp einen Monat nachdem sie endlich eingezogen waren, war es zu einem festen Bestandteil ihres Tagesablaufs geworden.
Das Läuten des Telefons hallte über den Steinfußboden und zerriss die ländliche Stille, die den beiden noch immer ein wenig unheimlich war. Gareth hatte auf eine altmodische, laute Telefonklingel bestanden, so wie die, mit der er im nördlichen New York aufgewachsen war. Eine, die man überall im Haus hören konnte. Er hatte erklärt, sie symbolisiere für ihn eine klare Aussage: die Tatsache, dass sie aus eigener Entscheidung hier waren und nicht durch eine Laune des Schicksals. Rose hatte seiner Argumentation nicht ganz folgen können, aber eine laute Klingel fand auch sie praktisch, zumal es dort, wo sie lebten, am Ende der Welt, keinen Handyempfang gab.
Rose nahm ihr Weinglas und ging ans Telefon.
»Christos ist tot«, war das Erste, was Polly sagte.
Rose musste sich auf die Fensterbank setzen. Die Eiseskälte des Steins kroch ihr in die Oberschenkel.
»Was?« Sie glaubte es nicht. Natürlich nicht.
»Er wurde getötet. Bei einem Autounfall. Er war betrunken.«
»Was ist denn?« Gareth zog seinen Stuhl heran und setzte sich neben Rose. Er hielt ihre Hand, während sie die Nachricht zu verarbeiten versuchte und nach Atem rang.
Rose dachte an Christos, diesen großen Bären von einem Mann. Von allen Menschen, die sie kannte, war Christos – mit Ausnahme ihrer Töchter und Gareth natürlich – der Letzte, von dem sie sich hätte vorstellen können, dass er eines Tages sterben würde. Er war das Leben in Person. Einmal, während sie mit Anna schwanger gewesen war, hatte sie plötzlich Heißhunger auf Jakobsmuscheln bekommen, und er hatte ihr ein ganzes Dutzend gebraten. »Du musst auf deinen Körper hören, er kennt dich besser als du«, hatte er mit seiner unfehlbaren griechischen Logik gesagt. Seine Bilder hingen überall in ihrem Haus. Explosionen von Farbe, Leben, Essen, Sex. Sie milderten die Kühle ihrer Inneneinrichtung und stritten sich auf wunderbare Weise mit der symmetrischen Strenge von Gareths eigenen, verkopfteren Werken. Eins der erotischsten Bilder, die Christos je gemalt hatte – von Polly, wie es der Zufall wollte –, hing sogar in ihrem Ankleidezimmer.
»Wann?«, wollte Rose wissen. Sie brauchte Fakten, um es zu begreifen.
»Vor zwei Wochen.«
Rose glaubte, den Klang des Meeres am anderen Ende der Leitung hören zu können, wie es gegen die Felsen an der Küste brandete. Sie stellte sich vor, dass Polly vor ihrem Haus auf Karpathos auf der Terrasse saß, die direkt zum Strand hinausging. Höchstwahrscheinlich hatte sie ein großes Glas Metaxa in der Hand. Aber es war Februar, also säße sie wohl doch nicht draußen. War es im Februar kalt in Griechenland? Rose wusste es nicht – sie war immer nur im Sommer dort gewesen und zum letzten Mal vor zweieinhalb Jahren. Sie und Polly hatten seit sechs Monaten nicht miteinander gesprochen, fiel ihr nun ein.
Aber ganz egal, wie lange sie sich nicht gesehen hatten, sie schienen immer genau dort wieder anknüpfen zu können, wo sie aufgehört hatten. Rose und Polly waren durch ein unzerreißbares Band miteinander verbunden. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten sich als Teenager und in ihren Zwanzigern eine Wohnung geteilt. Sie hatten beide Künstler geheiratet und sich danach gegenseitig damit überrascht, dass sie ihr Leben auf relativ traditionelle Weise um ihre Männer und Kinder herum aufgebaut hatten.
»Er fährt immer viel zu schnell auf den Straßen hier«, fuhr Polly fort. »Er denkt, er kennt sich aus, weil er hier geboren wurde, aber das ist totaler Schwachsinn.«
»Du Arme.« Rose wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen.
Sie schwiegen. Nur das Rauschen des Meeres war zu
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