Anita Blake 05 - Bleich Stille
Loch. Die Bestie hatte dem jungen das Gleiche angetan wie dem Blonden, aber gründlicher. Die vordere Schädelpartie war weggerissen. Ich schaute mich um, ob der Rest irgendwo im Laub lag, entdeckte aber nichts. Also musste ich wieder hinsehen, auf die Leiche. Ich wusste jetzt was ich vor mir hatte. Als ich es noch nicht wusste, hatte es mir besser gefallen.
Der Schädelgrund war voller Blut wie eine grausige Schale, aber das Gehirn fehlte. Das Schwert hatte ihn aufgeschnitten, quer durch Brust und Bauch. Die Eingeweide waren als dicke, gummiartige Masse herausgeglitten. Was ich für den Magen hielt, war wie ein halb aufgeblähter Ballon aus der Wunde gerutscht. Das linke Bein war am Hüftgelenk abgetrennt worden. Der zerfetzte Stoff der Jeans klebte um das Loch wie die Blütenblätter einer Knospe. Der linke Arm war am Ellbogen abgerissen. Der Oberarmknochen war rotbraun vom Blut und stand im falschen Winkel aufwärts ab, als wäre der Arm an der Schulter gebrochen und nicht mehr bewegt worden. Dieser Mord war gewaltsamer als die anderen. Hatte der Junge sich ein bisschen gewehrt?
Mein Blick huschte zu dem Gesicht. Ich wollte nicht hinsehen, aber ich hatte es noch nicht richtig untersucht. Einem Menschen das Gesicht zu entstellen hatte etwas entsetzlich Persönliches. Wenn das ein Mensch getan hatte, ich hätte gesagt, nehmt euch die nächsten Freunde und Verwandten vor. Als allgemeine Regel gilt, dass Ihnen nur jemand das Gesicht zerschneidet, der Sie liebt. Das setzt eine Leidenschaft voraus, die einem kein Fremder entgegenbringt. Der Massenmörder ist eine Ausnahme. Er handelt aufgrund einer Symptomatik, innerhalb deren das Opfer nur ein Stellvertreter ist. Stellvertreter eines Menschen, für den der Mörder heftige Gefühle hegt. Wenn er einem Fremden das Gesicht zerschneidet, tut er das symbolisch, zum Beispiel bei einer verhassten Vaterfigur.
Die feinen Knochen der Stirnhöhlen waren aufgebrochen. Der Oberkiefer fehlte, weshalb der Schädel unvollständig wirkte. Ein Teil des Unterkieferknochens war noch vorhanden, war aber zu den hinteren Backenzähnen hin eingedrückt. Zwei Zähne waren durch eine Laune des fließenden Blutes rein und weiß geblieben. Einer hatte eine Füllung. Ich starrte auf das vernichtete Gesicht. Es war mir so weit ganz gut gelungen, es nur als Fleisch anzusehen, einfach als totes Fleisch. Doch totes Fleisch bekommt keine Löcher im Zahn, geht nicht zum Zahnarzt. Ich sah plötzlich den Teenager oder vielleicht sogar ein Kind. Ich schätzte das nur aufgrund der Körpergröße und des augenscheinlichen Alters der anderen beiden. Vielleicht war der ohne Gesicht noch ein Kind gewesen, ein groß geratenes Kind. Ein kleiner Junge.
Der Frühlingsnachmittag schwankte. Ich atmete tief durch, um mich zu fassen, und das war ein Fehler. Ich bekam eine große Wolke Darm und schalen Tod ab. Ich kroch zum Rand der Senke. Niemals auf das Mordopfer brechen. Macht die Bullen sauer.
Oben auf der kleinen Anhöhe, wo sie alle versammelt waren, fiel ich auf die Knie. Eigentlich fiel ich nicht, sondern warf mich hin. Ich machte tiefe reinigende Atemzüge an der frischen Luft. Es half. Da oben ging ein kleiner Wind, der den Gestank des Todes verdünnte. Das half noch mehr.
Polizisten von jeder Gestalt und Größe standen da dicht beisammen. Unten bei den Toten verbrachte keiner mehr Zeit, als er musste. Ein Stück entfernt an der Straße wartete ein Krankenwagen, aber alle anderen hatten bereits ihren Anteil an den Leichen gehabt. Man hatte die Toten gefilmt, Scharen von Fachleuten waren um sie herum marschiert. Jeder hatte seine Aufgabe erledigt, außer mir.
»Wird Ihnen schlecht, Ms Blake?« Das war die Stimme Von Sergeant Freemont, Division of Drug and Crime Control, kurz DD/CC und liebevoll D2C2 genannt. Ihr Ton war freundlich, aber missbilligend. Ich verstand das gut. Wir waren die einzigen Frauen am Tatort, und das hieß, dass wir bei den großen Jungen mitspielen durften. Man muss härter sein als die Männer, stärker, besser, oder sie halten es einem vor. Oder sie behandelten einen, als wäre man ein kleines Mädchen. Ich wettete, Sergeant Freemont war nicht schlecht geworden. Sie hätte sich das nicht gestattet.
Ich machte einen weiteren reinigenden Atemzug und blies ihn aus. Ich schaute zu ihr hinauf. Wie ich so vor ihr kniete, kam jeder Zentimeter ihrer eins dreiundsiebzig ganz groß raus. Ihre Haare waren glatt, dunkel, kinnlang. Die Spitzen waren eingedreht
Weitere Kostenlose Bücher