Anklage
im Kopf stellte ich meinen Wagen auf dem grau-tristen Hof der Polizei ab. Ich schnappte mir meine Aktentasche, stieg aus und zog meinen Mantel über. Mit großen, ungeduldigen Schritten ging ich zum Eingang der Polizeistation. Meiner Verantwortung und meinem Schicksal entgegen.
Dass man mich damals als den jüngsten Anwalt der Kanzlei zu einem »großen Ding« schickte, gefiel mir. Offensichtlich würdigte man meine Arbeit. Das dachte ich zumindest. Ich fühlte mich großartig. Nur noch schnell den Papierkram am Empfang erledigt, und schon ging’s mit Riesenschritten Richtung
Gerechtigkeit. In Gedanken sah ich mich schon mit wehender Robe vor Gericht auf Freispruch plädieren. Welch naiver Gedanke!
Dieser Tag war mein letzter Tag als Jurist, danach wurde ich Anwalt. Ein harter, verschlagener, listiger und erfolgreicher Anwalt. Das war mir alles nicht bewusst, als ich meinen Namen an der Empfangspforte der Polizei nannte und Einlass verlangte. Ich verlangte ihn so, dass man meinen konnte, ich vertrete einen unschuldigen Dissidenten in einer übermächtigen und herzlosen Diktatur. Einen Menschen also, der dafür bestraft wird, nur weil er seine Menschenrechte wahrgenommen hat. Aber so ein Mandant wartete nicht auf mich. Eher das genaue Gegenteil. Ein echter Verbrecher! Der Polizist am Empfang reagierte ruhig und professionell, aber in seinen Augen konnte ich Verachtung lesen. Die Verachtung eines Menschen, der schon viel Leid gesehen hatte. Mir fiel nicht auf, dass diese Verachtung meinem unsensiblen Auftreten galt. Denn ich sah ihn als Feind. Einen Feind, gegen den man sich durchsetzen musste. Den man niederkämpfen musste. Genauso wie das Generationen von Anwälten vor mir gemacht hatten.
3
Es traf mich wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es so heftig werden würde: Die Kanzlei hatte mich zum »Monster« geschickt. So nannte die Presse den Mann, der seit mehr als 25 Jahren Kinder missbraucht hatte. Sexueller Missbrauch von Kindern in 147 Fällen lautete der Tatvorwurf! Mir wurde schlecht und mein Bauch sagte mir, dass ich besser gehen sollte. Doch mein Kopf sagte, dass es eine große Chance sei, einen solchen Täter zu verteidigen, und ich diese Chance unbedingt nutzen sollte. Mit so einem Fall könnte man als Strafverteidiger berühmt und sehr erfolgreich werden. Finanziell erfolgreich. Außerdem wäre das doch die Gelegenheit, sich in der Kanzlei eine gute Ausgangsposition auf dem Weg zur Partnerschaft zu sichern. Davon träumen schließlich alle jungen Anwälte.
Die Partnerschaft in einer renommierten Kanzlei ist fast die einzige Möglichkeit, als Anwalt nachhaltig finanziell abgesichert zu sein. Anders als manche selbstständige Anwälte, die oft nicht das verdienen, was man für ein ordentliches Leben benötigt, braucht man sich als Partner einer guten Kanzlei keine Gedanken um das liebe Geld zu machen. Man hat es einfach und kann das Klischee bedienen, das viele Menschen von Anwälten haben: reiche Zeitgenossen, die ein luxuriöses Leben führen. Ich malte mir eine rosige Zukunft aus. Außerdem war da ja noch meine Berufung. Ich wollte nicht nur Jurist sein, sondern Anwalt! Jemand, der sich für andere einsetzt, für die Gerechtigkeit arbeitet und siegt. Schließlich hat auch ein Straftäter Anspruch auf eine ordentliche Verteidigung. So steht es im Gesetz und so haben es die Professoren an der Uni gelehrt. Sofort war ich überzeugt, das Richtige zu tun, zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle zu sein. Und zimperlich war ich
doch auch noch nie. Ich musste doch das Monster einfach nur verteidigen. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Mein Bauch dagegen erkannte: Ich war gerade dabei, ein Anwalt zu werden, den jeder kaufen kann ohne auf Gerechtigkeit achten zu müssen. Ein Anwalt, der einem für Geld beisteht und dabei vor allem seinen persönlichen Vorteil im Kopf hat. Also jemand, der ohne zu fragen etwas tat, was die meisten Menschen sofort strikt ablehnen würden. Wer will sich schon auf die Seite eines Kinderschänders stellen? Ursprünglich war ich doch im Anwaltsberuf angetreten, um der Gerechtigkeit zu dienen und merkte nun nicht, dass ich dabei war mich zu prostituieren. Prostituieren nicht deshalb, weil ich diesen Mandanten überhaupt vertrat, sondern weil ich es nur wegen des eigenen Vorteils tat.
»Ich möchte meinen Mandanten sprechen«, fuhr ich den Polizisten an, und er kam anstandslos dem nach, wozu ihn das Gesetz verpflichtet: Er ließ einen
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