Anleitung zum Alleinsein
Vormittag gerochen hat.
Wie der Psychiater Barry Reisberg schon vor zwanzig Jahren beobachtete, spiegelt der geistige Verfall eines Alzheimer-Patienten die neurologische Entwicklung eines Kindes im Rückwärtslauf. Die frühesten Fähigkeiten, die ein Kind ausbildet – den Kopf heben (im ersten bis dritten Monat), lächeln (im zweiten bis vierten Monat), sich ohne Hilfe aufsetzen (im sechsten bis zehnten Monat) –, sind die letzten, die ein Alzheimer-Patient verliert. Die Gehirnentwicklung bei einem heranwachsenden Kind wird durch einen Myelinisation genannten Prozess unterstützt, in dessen Verlauf eine Isolierschicht aus der fettigen Substanz Myelin die Axonverbindungen zwischen den Neuronen zunehmendverstärkt. Da die Regionen des kindlichen Gehirns, die als letzte reifen, die am wenigsten myelinisierten bleiben, sind sie offenbar diejenigen, die durch Alzheimer am leichtesten angegriffen werden. Der Hippokampus, der Kurzzeiterinnerungen zu Langzeiterinnerungen verarbeitet, myelinisiert sehr langsam. Deshalb sind wir nicht in der Lage, vor dem Alter von drei oder vier Jahren dauerhafte episodische Erinnerungen auszubilden, und deshalb finden sich die Alzheimer-Plaques und -Knäuel am Hippokampus zuerst. So erklärt sich die gespenstische Erscheinung der Patientin im mittleren Stadium, die weiterhin gehen und sich ernähren kann, sich aber von einer Stunde auf die andere an nichts erinnert. Das Kind in ihrem Innern ist kein innerliches mehr. Neurologisch betrachtet haben wir es hier mit einer Einjährigen zu tun.
Auch wenn Shenk tapfer versucht, im infantilen Befreitsein des Alzheimer-Patienten von Verantwortung und der kindlichen Konzentration auf das Hier und Jetzt einen Segen zu sehen, weiß ich doch, dass das Letzte, was mein Vater wollte, die Rückverwandlung in ein Baby war. Die Geschichten, die er von seiner Kindheit im Norden Minnesotas erzählte, waren (wie es den Erinnerungen eines Depressiven entspricht) vor allem schrecklich: brutaler Vater, ungerechte Mutter, endlose Hausarbeit, hinterwäldlerische Armut, Vertrauensbrüche in der Familie, schwere Unfälle. Mehr als einmal erzählte er mir nach seiner Pensionierung, die größte Freude in seinem Leben sei es gewesen, als Erwachsener mit anderen Männern zusammenzuarbeiten, die sein Können schätzten. Mein Vater war ein ungemein verschlossener Mensch, und in seinen Augen erfüllte Verschlossenheit den Zweck, das beschämende Innenleben eines Menschen vor den Blicken anderer zu verstecken. Konnte es da für ihn eine schlimmere Krankheit als Alzheimer geben? In den frühen Stadien löste sie die persönlichen Bindungen, die ihn vor den übelsten Konsequenzen seiner depressiven Isolation bewahrt hatten,mehr und mehr auf. In den letzten nahm sie ihm das Panzernde des Erwachsenseins, die Möglichkeiten und Mittel, das Kind in sich zu verbergen. Hätte er doch stattdessen einen Herzinfarkt gehabt.
Mögen Shenks Argumente für die Behauptung, dass Alzheimer etwas Gutes habe, auch wacklig sein, seine Kernthese ist weit schwerer abzutun: Senilität ist nicht nur eine Auslöschung von Sinn, sondern auch eine Quelle von Sinn. Für meine Mutter verstärkten und verkehrten die Verluste durch Alzheimer alte Muster ihrer Ehe. Mein Vater hatte sich immer geweigert, sich ihr zu öffnen, und nun
konnte
er es in zunehmendem Maße gar nicht mehr. Für meine Mutter blieb er derselbe Earl Franzen, der in seinem Zimmer sein Schläfchen hielt und nichts mitbekam. Paradoxerweise war sie es, die langsam und sicher ihr Ich verlor, indem sie mit einem Mann zusammenlebte, der sie mit ihrer Mutter verwechselte, jede Einzelheit vergaß, die er einmal von ihr gewusst hatte, und schließlich nicht einmal mehr ihren Namen sagte. Er, der immer darauf bestanden hatte, der Tonangebende in der Ehe zu sein, der Bestimmende, der erwachsene Beschützer der kindlichen Frau, er benahm sich jetzt wie das Kind. Jetzt hatte er unziemliche Ausbrüche, nicht mehr meine Mutter. Jetzt lotste sie ihn durch die Stadt, wie sie früher mich und meine Brüder durch die Stadt gelotst hatte. Aufgabe für Aufgabe nahm sie ihrer beider Leben in die Hand. Und auch wenn die «lange Krankheit» meines Vaters für sie eine furchtbare Anstrengung und Enttäuschung war, so bot sie doch die Gelegenheit, langsam in eine Autonomie hineinzuwachsen, die ihr nie gestattet gewesen war: die Gelegenheit, einige sehr alte Rechnungen zu begleichen.
Was mich betraf, so zwang mich die schiere Dauer der
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