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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Mutter darauf beharrte, mein Vater habe nie gesagt, er liebe sie, kein einziges Mal, fragte ich sie, ob sie sich nicht an das eine Mal im Krankenhaus erinnere. Ich wiederholte, was er gesagt hatte, und sie schüttelte unsicher den Kopf. «Kann sein», sagte sie. «Kann schon sein. Daran erinnere ich mich nicht.»
    Meine Brüder und ich fuhren im Wechsel alle paar Monate nach St.   Louis. Mein Vater erkannte mich jedes Mal als einen, über dessen Anblick er sich freute. Sein Leben im Pflegeheim schien ein endloser, quälender Traum zu sein, bevölkert von Schimären aus seiner Vergangenheit und von all den deformierten und hirngeschädigten Mitpatienten; seine Pfleger waren in dem Traum weniger Akteure als Störenfriede. Anders als viele der Patientinnen, die in einem Moment wie Kleinkinder heulten und im nächsten vor Vergnügen strahlten, wenn jemand sie mit einem Eis fütterte, weinte mein Vater in meiner Anwesenheit nie, und die Freude, die er an einem Eis hatte, kam mir stets wie die eines Erwachsenen vor. Er nickte mir vielsagend zu und lächelte wehmütig, wenn er mir irgendwelche Unsinnsplitter anvertraute, auf die ich mit einem Nicken reagierte, als hätte ich verstanden. Sein häufigstes, beinahe-kohärentes Thema war sein Wunsch, aus «diesem Hotel» herausgeholt zu werden, und dass er einfach nicht begreifen konnte, warum er nicht in einer kleinen Wohnung wohnte und sich von meiner Mutter pflegen ließ.
    Im selben Jahr zu Thanksgiving fuhren meine Mutter, meineFrau und ich ins Pflegeheim und brachten ihn samt Rollstuhl in meinem Volvo-Kombi nach Hause. Er war nicht mehr dort gewesen, seit er da noch gewohnt hatte, was zehn Monate her war. Wenn meine Mutter auf eine freudige Dankesbekundung von ihm gehofft hatte, wurde sie enttäuscht; inzwischen beeindruckte meinen Vater ein Ortswechsel nicht mehr als einen Einjährigen. Wir saßen am Kamin und machten aus einer gedankenlosen, schäbigen Gewohnheit Fotos von einem Mann, der, auch wenn er sonst nichts wusste, von einem unseligen Wissen darum erfüllt schien, was für ein klägliches Fotomotiv er abgab. Die Bilder anzusehen ist heute schrecklich für mich: Mein Vater hängt in seinem Rollstuhl wie eine abgesetzte Marionette, die Augen wild starrend, der Mund schlaff, die Brille, von Blitzlicht verschmiert, rutscht ihm fast von der Nase; das Gesicht meiner Mutter eine Maske halbwegs beherrschter Verzweiflung; und meine Frau und ich mit grotesk verzerrter Miene lächelnd, die Hände zu meinem Vater ausgestreckt. Am Esstisch breitete meine Mutter ein Badetuch über ihn und schnitt ihm seinen Truthahn in kleine Stückchen. Unablässig fragte sie ihn, ob er sich freue, zum Thanksgiving-Essen zu Hause zu sein. Er antwortete mit Schweigen, schweifenden Blicken, manchmal einem schwachen Achselzucken. Meine Brüder riefen an und wünschten ihm einen schönen Feiertag; und da, wie aus dem Nichts, kriegte er ein Lächeln und einen kräftigen Klang in seiner Stimme hin, konnte einfache Fragen beantworten, dankte beiden für den Anruf.
    Auch dieser Teil des Abends war typisch Alzheimer. Weil Kinder die Regeln des gesellschaftlichen Umgangs sehr früh lernen, hält sich bei vielen Alzheimer-Patienten eine Befähigung zu Höflichkeitsgesten und vagen Anstandsfloskeln selbst dann noch, wenn da längst keine Erinnerungen mehr sind. Es war nicht weiter bemerkenswert, dass mein Vater mit den Feiertagsanrufen meiner Brüder (irgendwie) umgehen konnte. Wohl aber das, was danach passierte, nach dem Essen, vor dem Pflegeheim. Währendmeine Frau hineinlief, um einen Klinikrollstuhl zu organisieren, saß mein Vater neben mir und musterte das Hausportal, durch das er gleich wieder geschoben werden sollte. «Lieber gar nicht erst gehen», sagte er mit klarer, fester Stimme zu mir, «als wieder zurückmüssen.» Das war nicht vage; der Satz bezog sich unmittelbar auf die konkrete Situation und deutete stark darauf hin, dass mein Vater um sein größer gewordenes Elend und sein Eingebundensein in Vergangenheit und Zukunft wusste. Er bat, dass man ihm den Schmerz ersparen möge, wieder in Bewusstheit und Erinnerung zurückgezerrt zu werden. Und tatsächlich, am Morgen nach Thanksgiving und für den Rest unseres Besuchs war er wieder so verwirrt, wie ich ihn zuvor erlebt hatte, was er sagte, ein Kuddelmuddel wahlloser Silben, sein Körper ein einziges Gefuchtel.
    Von den «Fenstern zum Sinn», die laut David Shenk von Alzheimer gewährt werden, ist für ihn das bedeutendste, dass der Tod

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