Anleitung zum Alleinsein
hinausgezögert wird. Shenk vergleicht die Krankheit mit einem Prisma, das den Tod in ein Spektrum seiner ansonsten fest zusammengefügten Teile auffächert – den Tod der Unabhängigkeit, den Tod der Erinnerung, den Tod des Bewusstseins, den Tod der Persönlichkeit, den Tod des Körpers –, und bestätigt damit den gängigsten Tropus der Krankheit Alzheimer: dass sie deshalb so besonders traurig und erschreckend sei, weil dem Leidenden sein «Ich» lange vor dem Tod seines Körpers verloren geht.
In meinen Augen trifft das weitgehend zu. Als das Herz meines Vaters aufhörte zu schlagen, hatte ich schon viele Jahre um ihn getrauert. Und dennoch, wenn ich mir seine Geschichte vergegenwärtige, frage ich mich, ob die verschiedenen Tode wirklich so voneinander abgespalten werden können und ob Erinnerung und Bewusstsein tatsächlich ein so sicheres Anrecht darauf haben, der Hort der Individualität zu sein. Unablässig suche ich nach einem Sinn in den zwei Jahren, die auf den Verlust seines vermeintlichen «Ich» folgten, und unablässig finde ich ihn.
Vor allem anderen staune ich über das offenkundige Fortbestehenseines
Willens
. Ich bin außerstande,
nicht
zu glauben, dass er einen körperlichen Überrest seiner Selbstdisziplin, eine in den Sehnen wirksame Kraftreserve unterhalb von Bewusstsein und Erinnerung aufbot, als er sich zu der Bitte, die er mir vor dem Pflegeheim vortrug, aufraffte. Ebenso bin ich außerstande,
nicht
zu glauben, dass sein Zusammenbruch am folgenden Morgen, ähnlich dem Zusammenbruch in seiner ersten Nacht allein im Krankenhaus, eine Preisgabe jenes Willens war, ein Loslassen, ein Annehmen des Wahnsinns angesichts unerträglich werdender Gefühle. Auch wenn wir den Beginn seines Verfalls (volles Bewusstsein und klarer Verstand) und dessen Endpunkt (Vergessen und Tod) bestimmen können, war sein Gehirn doch nicht einfach eine computerartige Maschine, die allmählich und unaufhaltsam Amok lief. Während der Alzheimer’sche Abbauprozess einen stetigen Abwärtstrend wie den hier erwarten ließe,
sah das, was ich vom Niedergang meines Vaters mitbekam, eher so aus:
Er hielt sein Kräfte, vermute ich, länger beisammen, als es ihm der Zustand seiner Neuronen eigentlich erlaubt hätte. Dann kollabierte er und stürzte tiefer, als es durch das Krankheitsbild wohl vorgegeben war, und aus freien Stücken blieb er auch tiefda unten, an neunundneunzig von hundert Tagen. Was er
wollte
(in den frühen Jahren Distanz wahren, in den späteren loslassen), war ein integraler Bestandteil dessen, was er
war
. Und was
ich
will (Geschichten über das Gehirn meines Vaters, die nicht von einem Klumpen Fleisch handeln), ist ein integraler Bestandteil dessen, woran ich mich erinnern und was ich weitergeben möchte.
Eine der Geschichten, die ich nun also erzählen werde, während ich versuche, mir meine lange Blindheit seinem Zustand gegenüber zu verzeihen, ist die, dass er entschlossen war, diesen Zustand zu verbergen, und dass er sich über eine beachtlich lange Zeit die Charakterstärke bewahrte, das auch zu schaffen. Meine Mutter jedenfalls beteuerte immerzu, dass dem so war. Die Frau, mit der er zusammenlebte, konnte er nicht täuschen, egal, wie sehr er sie drangsalierte; wenn aber Söhne in der Stadt oder Gäste im Haus waren, konnte er sich aufraffen. Die wahre Erklärung für das Rätsel meines Aufenthalts bei ihm während der Krankenhauszeit meiner Mutter war wahrscheinlich weniger meine Blindheit als der zusätzliche Wille, den er aufbrachte.
Nach dem schlimmen Thanksgiving, als uns klargeworden war, dass er nie wieder nach Hause kommen würde, half ich meiner Mutter, seinen Schreibtisch durchzusehen. (Diese Freiheit nimmt man sich beim Durchsehen des Schreibtisches von einem Kind oder einem Toten.) In einer der Schubladen fanden wir Hinweise auf kleine, verdeckte Anstrengungen gegen das Vergessen. Da war ein Haufen Zettel, auf die er sich die Adressen seiner Kinder notiert hatte, eine Adresse pro Zettel, auf manchen dieselbe. Auf einen anderen Zettel hatte er die Geburtsdaten seiner älteren Söhne geschrieben – «Bob 13. 1. 48» und «TOM 15. 10. 50» –, und dann, in dem Bemühen, sich an meins zu erinnern (17. August 1959), hatte er Monat und Tag durchgestrichen und anhand der stehengebliebenen Daten geraten: «JON 13. 10. 49».
Denkwürdig auch die meiner Ansicht nach letzten Worte, die er, ein Vierteljahr vor seinem Tod, zu mir sagte. Ein paar Tagelang hatte
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