Anna, die Schule und der liebe Gott
für das Leben, unter solchen Vorzeichen völliger Quatsch ist, ist auch klar. Denn um die speziellen Lebensbedürfnisse des einzelnen Schülers geht es nun wirklich nicht. Der einzige echte Orientierungspunkt des Tayloristischen Schulsystems ist das Erreichen jenes zuvor festgeschriebenen Klassenziels in einer ebenso exakt vorherbestimmten Zeit innerhalb eines genau gleichen Unterrichts für alle.
Die Folge ist allgemein bekannt. Die am höchsten bewertete Tugend im konventionellen deutschen Schulsystem ist Konformität. Selbstverständlich gibt es in unseren Schulen zahlreiche Lehrer, die auf ihrer eigenen Werteskala Kreativität, Begeisterungsfähigkeit und frisches, unkonventionelles Denken höher einschätzen als Anpassungsleistungen. Doch das Schulsystem, wie wir es noch mehrheitlich vorfinden, erlaubt diese Eigenschaften nur in einem abgesteckten Rahmen von Fächern, Dreiviertelstunden-Takten und Klassenarbeiten, sodass ihre Entfaltung kaum möglich ist. Gar nicht zu reden übrigens vom noch schlimmeren französischen Schulsystem, das jede Schülerleistung nach einer zuvor angefertigten Schablone von sechzig Punkten bewertet; was bedeutet, dass jede eigenständige Idee, auf die der Lehrer nicht von selbst gekommen ist, unweigerlich mit Punkteabzug bestraft wird. Wird zum Beispiel beim Malen eines Bildes die Fläche des Papiers nicht gänzlich ausgenutzt, führt das zu einem Abstrich von zehn Punkten, weil es so festgelegt wurde. Ein hochkarätiger Künstler wie der US -Amerikaner Cy Twombly, der oft nur wenige Kritzeleien auf große Papierflächen gemalt hat, wäre an diesem sogenannten Kunstunterricht auf ganzer Fläche gescheitert, weil er es nicht schaffte, den Raum vorschriftsmäßig zu nutzen …
Ein hohes Maß an Kreativität und Eigensinn, sosehr es von einzelnen Lehrern geschätzt werden mag, ist weitgehend systeminkompatibel mit unseren Schulen. Wo kämen wir hin, könnte ein entrüsteter Lehrer fragen, wenn wir der Kreativität und dem Eigensinn eines jeden Schülers folgen und diese fördern würden? Wie könnte man auf diese Weise den Stoff bewältigen, wie das Klassenziel erreichen? Man käme also nirgends hin, insofern man das alte System beibehält. Nur die Konformen ermöglichen und garantieren dem Lehrer, dass er seinen Unterricht vorschriftsmäßig abhalten kann. Ob man den Kindern und Jugendlichen dabei einen Gefallen tut, dass man ihre Angepasstheit belohnt, darf allerdings bezweifelt werden. Was für die Schule gut ist, ist oft eben gerade nicht gut fürs Leben. Wie viele angepasste Schüler mit hervorragenden Noten haben im Berufsleben später weniger Erfolg als mancher Schulversager oder Schulrebell? Wer frühzeitig verlernt hat, den eigenen Weg zu gehen, wird ihn später oft nicht mehr finden. Der CDU -Parteirebell Heiner Geißler erzählt dazu gern seinen Lieblingswitz: Ein Mathematiklehrer trifft viele Jahre später einen seiner Schüler auf der Straße. Der junge Mann ist edel gekleidet und trägt eine teure Uhr. Sehr sichtbar hat er es zu etwas gebracht; er ist Millionär geworden. Der Lehrer ist verwundert. War der Schüler nicht immer in Mathe eine totale Niete? » Ich habe mein Geld mit Kartons verdient « , erklärt der Schüler. » Ich kaufe sie für einen Euro und verkaufe sie für fünf Euro weiter. Und von den 50 Prozent Gewinn kann ich prima leben! «
Dass die Schule ihrem Anspruch an die Entwicklung der individuellen Schülerpersönlichkeiten nicht gerecht wird, wäre vielleicht verzeihlich, insofern sie zumindest ihr anderes Ziel erreichen würde: eine möglichst umfassende Grundbildung für alle. Doch auch dieses Klassenziel des Schulsystems wird verfehlt. Bewertete man die konventionellen deutschen Schulen nach den eigenen Prämissen, so müssten die meisten von ihnen sitzen bleiben. Nach Ansicht von Andreas Gruschka, Professor für Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, erreichen sie nur ein Minimum der gewünschten Leistung: » Man stelle sich die Produktion von ähnlich wertvollen Gütern wie Bildung vor, bei der lediglich 20 Prozent den eigentlich angezielten Qualitätsstandard erreichen! Sieht man einmal von der Grundschule ab, so leistet keine der Schulformen auch nur annähernd das, was von ihnen erwartet werden muss. Die Hauptschulen produzieren in erschreckendem Umfang die inzwischen als ›Risikogruppe‹ ausgezeichneten Schüler der PISA -Ergebnisse. Die beherrscht nach der Sekundarstufe erschreckend oft
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