Anna, die Schule und der liebe Gott
nicht einmal das ›Rechnen auf Grundschulniveau‹ und fällt fachlich wie motivational als zukünftige Facharbeitergruppe aus. Den Gesamtschulen mangelt es durchschnittlich an der Leistungsfähigkeit, die man von einem integrierten System verlangen muss. Und auch die Gymnasien liefern nicht genügend Spitze in der Breite. « 51
Angesichts dieser Diagnose steht fest, dass es mit Schönheitsoperationen an unserem Schulsystem nicht getan ist. Vielmehr ist es vergleichbar mit einem krebskranken Patienten, der einer umfangreichen Therapie bedarf. Wahrscheinlich wären wir in Deutschland damit längst weiter fortgeschritten, wenn im vergangenen Jahrzehnt nicht die weitgehend kontraproduktiven PISA -Studien einen völlig hohlen Alarmismus ausgelöst hätten. Denn die Reformen in der Folge von PISA erhöhten vor allem den Quantitätsdruck auf die deutschen Schüler – in der pädagogisch wirren Annahme, mehr Stoff in kürzerer Zeit zu bewältigen, bedeute unweigerlich besser zu werden. Dass etwas zu verstehen ganz im Gegenteil bedeutet, möglichst viel Zeit zu haben, um nachdenken zu können, hatten die G8-Freunde dabei offensichtlich noch nie gehört. Wie aber sollen Bildungspolitiker eine sinnvolle Reform des Verstehens in der Schule durchführen, wenn sie Verstehen nicht verstehen?
Gefüllte Fässer
Betrachtet man die im Zuge von PISA und G8 in Deutschland durchgeführten Veränderungen in unseren Schulen, so ist man geneigt zu glauben, die Kultus- und Bildungsminister hielten es mit Dietrich Schwanitz und meinten, Bildung sei » alles, was man wissen muss « . Also in erster Linie eine Fülle von angelerntem und auswendig gelerntem Stoff.
Bei einer Bahnfahrt saß ich vor einiger Zeit einem Schüler gegenüber, der sich auf seine Abiturprüfung in Biologie vorbereitete. Das Buch Biologie für die Oberstufe, in dem er las, hatte vierhundert eng bedruckte Seiten; zwei Drittel davon waren Prüfungsstoff. Wie viel Zeit ein Achtzehnjähriger braucht, um sich zweihundertsechzig Seiten Text genau einzuprägen, weiß ich nicht. Was ich dagegen zu wissen glaube, ist, dass er das in seinem späteren Leben, spätestens nach seinem Studium, nie mehr können oder tun muss. Und was noch wichtiger ist: Wie viel von dem, was er in wenigen Wochen sich eilig merkt, wird er in fünf oder zehn Jahren wissen? Mit anderen Worten: Wie viel bleibt als verstandenes, durchdachtes und abrufbares Wissen zurück und wird damit Teil seines Lebens?
Mit Bildung hat eine solche Lernerei jedenfalls so gut wie nichts zu tun. Vielmehr handelt es sich um einen Kurzzeitgedächtniswettbewerb ohne jeden echten Wert. Wer bisher womöglich die Ansicht vertrat, ich übertriebe mit meiner harschen Kritik an diesem System, muss sich nur einmal die Frage stellen, was er von den mehr als 10 000 Stunden, die er bis zum Abitur in die Schule gegangen ist, eigentlich behalten hat. Ein paar kleine Beispiele aus dem vergleichsweise leichten Stoff des siebten oder achten Schuljahrs mögen genügen: Wovon handelt das Ohm’sche Gesetz? Was ist die » Goldene Bulle « ? Können Sie den Höhensatz in der Mathematik anwenden? Was misst man in Newton? Kann man Präpositionen steigern? Was ist Molmasse?
Vermutlich haben Sie diesen » Stoff « im Alter von ungefähr dreizehn Jahren einmal in der Schule durchgenommen. Und vielleicht wissen Sie auf eine oder zwei Fragen eine Antwort. Aber vielleicht auch nicht, und alles, was von diesem kleinen Abfragen bei Ihnen zurückbleibt, ist ein Schauder von schlechter Laune und diffusen, unangenehmen Erinnerungen. Vielleicht gehören Sie zu denen, die jetzt seufzen: » Physik habe ich noch nie gekonnt. « Oder: » Chemie hat mich noch nie interessiert! « Irgendwie haben viele von Ihnen dann aber trotzdem Abitur gemacht – und zwar ohne wirklich Relevantes in Physik oder Chemie verstanden und mitgenommen zu haben. Diese Schulbildung ist es, auf die unsere Kultus- und Bildungsminister aber stolz sind und die sie mehrheitlich nicht ändern wollen.
Die Wahrheit ist: Unsere Schulen bringen ein unglaublich dürftiges Resultat hervor! Von über 13 000 Unterrichtsstunden plus etwa 7000 Stunden Hausaufgaben, so schätzt der Psychologe Thomas Städtler, bleibt vielleicht ein Prozent des Stoffes im Gedächtnis: » Man mag darüber streiten, ob meine 1 Prozent-Hypothese zutrifft, wer Wissensfetzen, meist holprig formulierte einzelne Schlagwörter und weitgehend leere Phrasen als Wissen bezeichnen will, mag auch von 5 Prozent verbleibenden
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