Anna, die Schule und der liebe Gott
US -amerikanischen Ökonomen Frederick Winslow Taylor (1856 –1915). Was dieser sich unter dem wohlklingenden Wort Scientific Management ausgedacht hatte, war die völlige Normierung von Arbeitsabläufen in festgeschriebenen Prozessen. Nach Taylors Vorstellungen wurde in amerikanischen Fabriken genau festgelegt, wie, wo und wann ein Arbeiter eine Tätigkeit exakt auszuführen hatte. An die Stelle individueller Arbeit trat ein normierter Stundenplan für jedermann, innerhalb dessen die Arbeitsaufgaben zu erledigen waren. Dazu kamen permanente Leistungs- und Qualitätskontrollen. Humanität und demokratische Mitbestimmung, mithin eine » Unternehmenskultur « , waren diesem enorm erfolgreichen Modell des frühen 20. Jahrhunderts fremd. Die schönste und treffendste Karikatur des Taylorismus findet sich in Charlie Chaplins Film Modern Times (Moderne Zeiten; 1936). Doch alle humoristische Überspitzung verhinderte nicht den Siegeszug einer völlig verwalteten und durchgeplanten Arbeitswelt und damit zugleich auch den Siegeszug von Schulen, die die Kinder auf diese Welt vorbereiten sollten.
Das Prekäre am gegenwärtigen Dilemma unserer Schulen ist, dass heute gewiss kein Bildungsminister mehr den Taylorismus verteidigen würde. Gleichwohl aber halten unsere Kultus- und Bildungsminister unverdrossen an einer Organisationsstruktur fest, die den Geist des Taylorismus noch immer institutionell zementiert. Die Folge ist: Was Schule sein soll (ein Ort individuellen Lernens) und was Schule ist (eine Institution uniformen Lernens), passt in keinster Weise mehr zusammen. Der Inhalt quillt, für jedermann sichtbar und erfahrbar, aus dem Gehäuse.
Das Unbehagen in der Schulkultur
Dass aus diesem Jungen » nie in seinem Leben etwas Rechtes werden « würde, da war sich der Klassenlehrer sicher. Aufsässig und in mehreren Fächern desinteressiert, gab es für den Schüler am Münchner Luitpold-Gymnasium keine Zukunft. Notgedrungen verließ er die Schule ohne Abitur. Immerhin war auch ohne Gymnasialabschluss die Teilnahme an der Aufnahmeprüfung der Eidgenössischen Polytechnischen Hochschule (der späteren ETH ) in Zürich möglich. Doch wiederum versemmelte es der Problemschüler. Trotz glänzender Prüfungsleistungen in Mathematik und Physik verwehrte ihm die Hochschule den Zugang. Zu schlecht waren die Leistungen in den anderen Fächern ausgefallen. 49
Der Name des Schülers war Albert Einstein – eine von vielen großen Begabungen, die sich durch die Schule und das Bildungssystem quälten und erst in wiederholtem Anlauf oder gar keinen Erfolg hatten. Das Erdrosseln » der Freude, die heilige Neugier des Forschens « , ist das, was Einstein von der Schule in Erinnerung behielt. Unendlich ist die Liste der Namen berühmter Persönlichkeiten, die in der Schule schlecht waren, dort strauchelten oder sie zumindest verachteten. Robert Musil, Franz Kafka, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Karl Popper, Rolf Hochhuth gehören aus der deutsch-österreichischen Zeitgeschichte dazu. International umfasst die Liste noch Namen wie Thomas Alva Edison, George Bernard Shaw oder Winston Churchill.
Dass Einstein und die verwaltete Schulwelt des Taylorismus nicht zusammenpassten, wird nicht überraschen. » Können Sie sich vorstellen, jemand hätte Einstein gesagt: ›Okay, räum mal dieses Relativitäts-Zeug weg, wir machen jetzt europäische Geschichte‹? Oder man hätte Michelangelo gesagt: ›Schluss jetzt mit der Himmelsmalerei, nun streich erst mal die Wände‹? Diese Art Kreativität abzuwürgen und Grenzen zu setzen, passiert zu jeder Zeit in konventionellen Schulen. « 50
Kinder und Jugendliche nach ihren Begabungen individuell zu fördern und das konventionelle Schulsystem schließen sich aus. In der Praxis bedeutet dieser Widerspruch einen immer neuen Spagat des Lehrers. Nicht nur der Schüler, auch er selbst ist der Leidtragende eines Systems, das neben dem Unterrichtsplan und dem Klassenziel irgendwann zwar die Individualität von Schülern entdeckte, ihr aber systemimmanent nicht Rechnung tragen kann.
Dass die schönen offiziellen Worte über die Entfaltung der Schülerpersönlichkeit und das Erreichen eines vorgeschriebenen Klassenziels für alle nicht zusammenpassen, lernt jedes Kind in kürzester Zeit. Nicht persönliche Vorlieben und Begabungen bilden den Maßstab des Lernens in konventionellen Schulen, sondern Klassenziel und Klassendurchschnitt. Dass die Behauptung, man lerne in der Schule nicht für die Schule, sondern
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