Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Gesichter der Geister auf, die ich getötet habe. Ich sehe die verwirrten, zornigen und schmerzerfüllten Mienen, den erschrockenen Blick des Anhalters, der nach Hause zu seinem Mädchen wollte. Ich kann nicht behaupten, jemals den Eindruck gehabt zu haben, ich bettete die Geister zur Ruhe. Ich habe es zwar gehofft, doch ich konnte es nicht wissen. Aber eins weiß ich genau: dass ich so etwas nie gewollt habe.
»Es ist unmöglich«, widerspreche ich schließlich. »Der Dolch kann nicht an die Toten gebunden sein. Er soll sie töten, nicht nähren.«
»Du hast da nicht den Heiligen Gral in der Hand, Junge«, sagt Morfran. »Das Messer wurde vor langer Zeit mithilfe von Kräften geschmiedet, die glücklicherweise längst vergessen sind. Auch wenn du es jetzt für einen guten Zweck benutzt, heißt das nicht, dass es von vornherein dafür geschaffen wurde. Deine Absicht schließt nicht aus, dass die Waffe noch zu ganz anderen Dingen fähig ist. Was es auch war, als dein Dad es führte, jetzt ist es etwas anderes. Jeder Geist, den du mit ihm getötet hast, hat diesen einen Geist stärker gemacht. Er ist ein Menschenfresser. Ein Obeah-Mann. Er häuft Macht an.«
Angesichts dieser Anklagen will ich am liebsten wieder ein kleines Kind sein. Warum sagt ihnen meine Mami nicht, dass sie verdammte Lügner sind? Gemeine, böse, gehässige Lügner? Aber meine Mutter steht schweigend da, hört es sich an und widerspricht nicht.
»Du meinst also, er sei die ganze Zeit bei mir gewesen.« Mir wird übel.
»Ich meine, dass der Athame genauso ist wie die Sachen, die wir in diesem Laden verkaufen. Der Geist hing daran.« Morfran wirft Anna einen düsteren Blick zu. »Und jetzt will er sie haben.«
»Warum tut er es nicht selbst?«, frage ich müde. »Er ist doch ein Fleischfresser, oder? Wozu braucht er noch meine Hilfe?«
»Weil ich nicht aus Fleisch bin«, erklärt Anna. »Wäre ich aus Fleisch, dann wäre ich längst verwest.«
»Das war jetzt sehr unschön ausgedrückt, aber sie hat recht«, wirft Carmel ein. »Wenn Geister aus Fleisch wären, dann wären sie eher wie Zombies, oder?«
Ich schwanke neben Anna. Der Raum dreht sich ein wenig, sie legt mir den Arm um die Hüften.
»Spielt das jetzt noch eine Rolle?«, fragt Anna. »Wir müssen etwas tun. Kann diese Diskussion nicht warten?«
Sie sagt es, um mir zu helfen. Sie will mich schützen. Ich sehe sie dankbar an, wie sie in dem reinen weißen Kleid neben mir steht. Sie ist bleich und schlank, aber niemand würde sie für schwach halten. Für diesen Obeah-Mann ist sie vermutlich das Festmahl des Jahrhunderts.
Er will sie haben, damit er bis zu seiner Rente von ihr zehren kann.
»Ich töte ihn«, sage ich.
»Wenn du selbst weiterleben willst, bleibt dir gar nichts anderes übrig«, stimmt Morfran zu.
Das klingt aber gar nicht gut. »Was meinst du damit?«
»Ich bin kein Spezialist für Obeah. Auch mit Julian Baptistes Hilfe würde es mehr als sechs Jahre dauern, so weit zu kommen. Aber selbst wenn ich Bescheid wüsste, könnte ich nicht den Fluch von dir nehmen. Ich kann nur ein wenig dagegenhalten und dir etwas Zeit verschaffen. Aber nicht sehr viel. Bis zum Morgengrauen bist du tot, wenn du nicht tust, was er will. Oder wenn du ihn nicht tötest.«
Anna zuckt neben mir zusammen, und meine Mom legt sich eine Hand auf den Mund und beginnt zu weinen.
Tot bis zum Morgengrauen. Na gut. Ich fühle gar nichts, noch nicht, abgesehen von einem leisen, müden Summen, das meinen ganzen Körper durchströmt.
»Was genau wird denn mit mir passieren?«, frage ich.
»Das weiß ich nicht«, gibt Morfran zu. »Es könnte nach einem normalen, alltäglichen Todesfall aussehen, vielleicht auch nach einer Vergiftung. So oder so musst du damit rechnen, dass in den nächsten Stunden einige deiner Organe versagen werden. Es sei denn, wir töten ihn, oder du tötest sie.« Er nickt Anna zu, die mir die Hand drückt.
»Vergiss es«, sage ich zu ihr. »Ich werde nicht tun, was er verlangt. Diese edelmütige Opfernummer geht mir so langsam auf die Nerven.«
Sie reckt das Kinn. »Das wollte ich auch gar nicht vorschlagen«, erwidert sie. »Wenn du mich tötest, macht ihn das nur stärker, und dann würde er wieder herkommen und dich trotzdem töten.«
»Was tun wir dann?«, fragt Thomas.
Es gefällt mir nicht, den Anführer zu spielen. Ich habe nicht viel Übung darin und fühle mich wohler, wenn ich nur meine eigene Haut riskiere. Aber so ist es nun mal. Wir haben keine Zeit für
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