Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
gegen den Spruch, der ihr den Zutritt verwehrt. Ihr Kopf muss sich mittlerweile genauso schwer anfühlen wie meiner. Ein dünnes Rinnsal aus schwarzem Blut läuft aus ihrer Nase über die Lippen. »Nimm das Messer und komm her, du Feigling«, ruft Anna. »Komm raus und lass mich von der Leine!«
Er kocht vor Wut, er starrt sie an und knirscht mit den Zähnen. »Dein Blut auf meiner Klinge, oder der Junge gesellt sich morgen zu uns.«
Ich versuche, den Athame fester zu packen. Leider kann ich die Hand nicht mehr spüren. Anna ruft wieder etwas, das ich nicht verstehe. Ich habe das Gefühl, meine Ohren seien voller Watte, und höre schließlich gar nichts mehr.
Ich fühle mich, als wäre ich zu lange unter Wasser geblieben und hätte dummerweise den ganzen Sauerstoff verbraucht. Obwohl die Oberfläche nur wenige Schwimmzüge entfernt ist, gerate ich in Panik, weil ich ersticken könnte, und so gelange ich erst recht nicht ans Ziel. Meine Augen sind weit geöffnet und sehen doch alles nur verschwommen. Dann atme ich endlich ein. Ich weiß nicht, ob ich keuche, aber es fühlt sich so an.
Über mir erkenne ich Morfrans Gesicht. Er ist viel zu nahe. Instinktiv will ich tiefer in die Fläche sinken, auf der ich liege, um mich vor dem verfilzten Bart in Sicherheit zu bringen. Er bewegt den Mund, aber bei mir kommt kein Laut an. Es ist völlig still. Nicht einmal ein Summen oder Dröhnen dringt an mein Ohr. Mein Gehör ist noch nicht wieder online.
Gott sei Dank zieht Morfran sich zurück und redet mit meiner Mom. Dann ist auf einmal Anna da. Sie schiebt sich in mein Blickfeld und lässt sich neben mir auf dem Boden nieder. Ich will den Kopf drehen, um ihr mit dem Blick zu folgen. Sie streicht mir mit
den Fingerspitzen über die Stirn, sagt aber nichts. Anscheinend ist sie erleichtert.
Mein Gehör erwacht auf eine seltsame Weise zum Leben. Zuerst vernehme ich gedämpfte Stimmen, und als ich dann endlich die Worte unterscheiden kann, verstehe ich sie nicht. Mein Gehirn benimmt sich, als sei es zerfetzt worden und könne nur sehr behutsam die Fühler wieder ausstrecken. Es betastet die Nerven, ruft sich über die Lücken zwischen den Synapsen hinweg selbst etwas zu und ist froh, dass alles noch vorhanden ist.
»Was ist los?«, frage ich, sobald ein Gehirntentakel meine Zunge gefunden hat.
»Oh Gott, Mann, ich dachte, du wärst im Eimer«, ruft Thomas. Er taucht am Rand des alten Sofas auf, auf das sie mich auch an dem ersten Abend gelegt haben, nachdem mich die Jungs in Annas Haus niedergeschlagen hatten. Ich bin in Morfrans Laden.
»Als sie dich hergebracht haben …«, beginnt Thomas. Er beendet den Satz nicht, aber ich weiß auch so, was er meint. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter und schüttele ihn kurz.
»Mir geht es gut.« Es ist nicht einmal sehr anstrengend, mich aufzurichten. »Es hat mich schon schlimmer erwischt.«
Morfran steht auf der anderen Seite des Raums, kehrt uns allen den Rücken und tut so, als hätte er viel wichtigere Dinge zu tun. Jetzt schnaubt er geringschätzig.
»Schwerlich.« Er dreht sich um. Die Drahtbrille ist
fast bis zur Nasenspitze heruntergerutscht. »Und du bist aus der Bredouille noch lange nicht heraus. Jemand hat dich obeaht.«
Thomas, Carmel und ich machen genau das, was man eben macht, wenn jemand auf einmal eine Fremdsprache spricht. Wir wechseln verständnislose Blicke und sagen: »Häh?«
»Das war Obeah, Junge«, knurrt Morfran. »Westindische Voodoo-Magie. Du hattest Glück, dass ich sechs Jahre auf Anguilla bei Julian Baptiste gelebt habe. Das war ein richtiger Obeah-Mann.«
Ich strecke die Glieder und setze mich gerade hin. Abgesehen von den Druckstellen im Rücken und an der Seite und dem schwummrigen Gefühl im Kopf fühle ich mich recht gut.
»Mich hat ein Obeah-Mann obeaht? Ist das so ähnlich, wie von einem Schlumpf geschlumpft zu werden?«
»Mach keine Witze, Cassio.«
Meine Mutter hat sich eingeschaltet. Sie sieht schrecklich aus. Sie hat geweint. Das ist übel.
»Ich weiß immer noch nicht, wie er in das Haus gelangt ist«, erklärt sie. »Wir waren doch wirklich sehr vorsichtig, und die Barriere hat funktioniert. Anna konnte nicht hinein.«
»Es war ein großartiger Spruch, Mrs. Lowood«, bestätigt Anna freundlich. »Ich hätte nie über die Schwelle treten können. Ganz egal, wie sehr ich es auch wollte.« Als sie die letzten Worte ausspricht, werden ihre Augen ein paar Schattierungen dunkler.
»Was ist passiert, nachdem ich ohnmächtig
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