Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
und fragt gleich danach panisch, ob ich wenigstens aufgewacht sei.
»Carmel!«, rufe ich zurück und kämpfe mich auf die Knie hoch. »Alles in Ordnung.«
»Cas«, schreit sie zurück. »Diese Schwachköpfe – ich wusste es nicht, das schwöre ich dir.«
Ich glaube ihr. Als ich mir über den Hinterkopf streiche, bleibt etwas Blut an meinen Fingern kleben. Genau genommen ist es sogar eine Menge Blut, aber ich mache mir keine großen Sorgen, weil Kopfverletzungen immer tropfen wie ein alter Wasserkran, selbst wenn es nur ein kleiner Schnitt ist. Ich stemme
die Hand auf den Boden und richte mich auf. Das Blut vermischt sich mit dem Staub zu einer ekligen roten Schmiere.
Sofort wird mir klar, dass ich zu früh aufgestanden bin. Mir wird schwindlig. Ich muss mich wieder hinlegen. Der Raum dreht sich um mich.
»Gott, sieh ihn dir an. Er ist wieder weggesackt. Wir sollten ihn da rausholen, Mann. Er hat bestimmt eine Gehirnerschütterung oder so was.«
»Hey, ich hab ihm ein Brett auf den Kopf geknallt. Natürlich hat er eine Gehirnerschütterung. Sei nicht so ein Idiot.«
Das sagt der Richtige. Ich halte aber den Mund, weil sich alles völlig unwirklich anfühlt, als hätte es nichts mit mir zu tun. Fast wie im Traum.
»Wir lassen ihn einfach hier, er findet schon wieder zurück.«
»Mann, das können wir nicht machen. Sieh dir doch an, wie stark sein Kopf blutet.«
Während Mike und Chase sich darüber streiten, ob sie sich um mich kümmern müssen oder mich lieber sterben lassen wollen, versinke ich wieder in der Dunkelheit und denke mir, jetzt ist es also so weit. Nun haben mich tatsächlich Lebende umgebracht, was ich bisher immer für undenkbar gehalten habe.
Aber dann höre ich, wie Chase auf einmal mindestens fünf Oktaven höher spricht. »Oh Gott! Oh Gott!«
»Was denn?«, ruft Mike. Es klingt zugleich gereizt und panisch.
»Die Treppe! Sieh dir die verdammte Treppe an!«
Ich reiße mich zusammen, öffne die Augen und schaffe es, den Kopf ein paar Zentimeter zu heben. Zuerst fällt mir an der Treppe nichts Besonderes auf. Sie ist recht schmal, und das Geländer ist an drei Stellen zerstört. Dann blicke ich weiter nach oben.
Sie ist es. Sie flackert wie ein Bild auf einem Computer, ein dunkles Gespenst, das sich aus einem Video in die Realität durchkämpfen will. Als sie das Geländer berührt, bekommt sie eine körperliche Gestalt. Das Holz knarrt und kracht unter dem Druck.
Ich bin immer noch desorientiert und schüttle leicht den Kopf. Ich weiß, wer sie ist, und kenne ihren Namen, habe aber keine Ahnung, warum ich hier bin. Dann wird mir bewusst, dass ich in der Falle sitze. Chase und Mike geraten in Panik und streiten sich darüber, ob sie weglaufen oder mich irgendwie aus dem Haus holen sollen.
Anna kommt zu mir herab, sie schwebt die Treppe herunter, ohne Schritte zu machen. Es sieht entsetzlich aus, wie sie die Füße hinter sich herschleppt, als wären sie zu nichts mehr zu gebrauchen. Auf ihrer bleichen Haut zeichnen sich dicke, purpurfarbene Venen ab. Ihr Haar ist nachtschwarz und schwebt, als befände es sich unter Wasser. Es wallt um ihren Kopf herum wie Tangstränge und ist das Einzige an ihr, das lebendig wirkt.
Die Wunden, die ihren Tod verursacht haben, sind im Gegensatz zu anderen Geistern bei ihr nicht zu sehen. Es heißt, man habe ihr die Kehle durchgeschnitten, doch der Hals dieses Mädchens ist lang und
weiß. Aber das Kleid. Es ist feucht und rot und bewegt sich unablässig. Tropfen fallen auf den Boden.
Instinktiv krabbele ich zur Wand zurück, bis ich den kalten Widerstand im Rücken und an den Schultern spüre. Vor allem ihre Augen ziehen mich in den Bann. Sie sind wie Öltropfen. Es ist unmöglich zu sagen, wohin sie blickt, aber ich bin nicht so dumm zu glauben, sie könne mich nicht sehen und hätte mich nicht längst entdeckt. Sie ist schrecklich. Nicht grotesk, sondern so, als wäre sie nicht von dieser Welt.
Das Herz rast in meiner Brust, und die Kopfschmerzen sind unerträglich. Sie befehlen mir, mich niederzulegen. Sie machen mir klar, dass ich nicht fliehen kann. Ich habe nicht die Kraft zu kämpfen. Anna wird mich töten, und ich denke zu meiner eigenen Überraschung, dass es lieber jemand wie sie sein soll, der ein Kleid aus Blut trägt. Ich will lieber in die Hölle stürzen, die sie für mich bereithält, als irgendwo in einem Krankenhaus leise abtreten, weil mir jemand ein Brett auf den Kopf geschlagen hat.
Sie kommt näher. Ich schließe die Augen,
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