Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Trojanerarmee. Zweifellos setzen sie ihm schon seit dem Kindergarten zu. Ein dürrer, linkischer Junge wie er, der behauptet, ein Medium zu sein, und sich in staubigen Kuriositätenläden herumtreibt, war vermutlich immer das beliebteste Opfer für Klotunken und Kopfnüsse. Aber sie sind harmlose
Idioten und hatten es wohl nicht wirklich darauf angelegt, mich umzubringen. Sie haben Anna einfach nicht ernst genommen und die Geschichten nicht geglaubt. Und jetzt ist einer von ihnen tot.
»Verdammt«, sage ich laut. Ich frage mich, was jetzt mit Anna passiert. Mike Andover war keiner der üblichen Vagabunden oder Ausreißer, sondern ein bekannter Schulsportler und Partygänger, und Chase hat alles gesehen. Ich kann nur hoffen, dass er zu große Angst hat, um zu den Cops zu gehen.
Nicht, dass die Cops irgendeine Chance hätten, Anna aufzuhalten. Wenn sie in das Haus eindringen, gibt es nur noch mehr Tote. Wenn sie sich ihnen überhaupt zeigt. Außerdem gehört Anna mir. Ich sehe sie einen Moment wieder vor mir, wie sie sich bleich und rot tropfend materialisiert. Aber mein angeschlagenes Gehirn kann das Bild nicht festhalten.
Ich blicke zu Thomas, der immer noch nervös raucht.
»Danke, dass du mich herausgeholt hast.«
Er nickt wortlos. »Eigentlich wollte ich es nicht«, gibt er zu. »Ich meine, ich wollte schon, aber als ich gesehen habe, wie Mike als matschiger Haufen am Boden lag, ist mir die Lust vergangen.« Er zieht an der Zigarette. »Meine Güte, ich kann gar nicht glauben, dass er tot ist und dass sie ihn so zerfleischt hat.«
»Warum denn nicht? Du hast doch an sie geglaubt.«
»Ja, sicher, aber ich habe sie noch nie gesehen. Niemand weiß, wie Anna aussieht, denn wenn du sie siehst …«
»Dann überlebst du nicht und kannst es niemandem erzählen«, beende ich niedergeschlagen den Satz.
Als ich auf den spröden Dielenbrettern Schritte höre, hebe ich den Kopf. Ein alter Mann ist eingetreten. Er hat einen langen, grauen Bart, dessen Strähnen zu Zöpfen geflochten sind, und trägt ein verwaschenes Grateful-Dead-T-Shirt und eine Lederweste. Auf den Unterarmen hat er eigenartige Tätowierungen, deren Bedeutung ich nicht kenne.
»Du hast verdammt großes Glück gehabt. Ich muss schon sagen, von einem professionellen Gespensterjäger hätte ich mehr erwartet.«
Ich fange den Eisbeutel auf, den er mir zuwirft, und drücke ihn mir auf den Schädel. Er verzieht das ledrige Gesicht zu einem Lächeln und mustert mich durch seine Drahtbrille.
»Jetzt wird mir klar, wer dem Gänseblümchen den Tipp gegeben hat.« Ich weiß es einfach. »Und ich dachte, es sei unser kleiner Thomas hier gewesen.«
Die Antwort besteht nur aus einem Lächeln, das mir allerdings alles verrät.
Thomas räuspert sich. »Das ist Morfran Starling Sabin, mein Opa.«
Ich muss lachen. »Warum gebt ihr Gruftis euch immer so verrückte Namen?«
»Für jemanden, der Theseus Cassio heißt, lehnst du dich ganz schön weit aus dem Fenster.«
Er ist ein schlagfertiger alter Knabe, den ich sofort mag. Die Stimme passt zu einem alten Italowestern in Schwarzweiß. Es stört mich nicht, dass er weiß,
wer ich bin. Im Grunde bin ich sogar erleichtert. Es freut mich, jemandem zu begegnen, der zu diesem seltsamen Untergrund gehört. Nur wenige kennen meinen Job, meinen Ruf und den meines Vaters. Ich führe ja nicht gerade das Leben eines Superhelden. Ich brauche Menschen, die mich auf die richtigen Fährten setzen und wissen, wer ich wirklich bin. Es dürfen nur nicht zu viele werden. Aber ich verstehe nicht, warum Thomas es mir nicht gleich gesagt hat, als er mich am Friedhof angesprochen hat. Verdammte Geheimniskrämerei.
»Was macht dein Kopf?«, fragt Thomas.
»Kannst du nicht meine Gedanken lesen, du Medium?«
Er zuckt mit den Achseln. »Wie gesagt, meine Begabung ist nicht so stark. Mein Opa hat gesagt, dass du kommst und dass ich nach dir Ausschau halten soll. Manchmal kann ich Gedanken lesen, aber bei dir klappt es heute nicht. Vielleicht liegt es an der Gehirnerschütterung. Vielleicht ist es auch nicht mehr nötig. Es kommt und geht.«
»Gut. Diese Gedankenleserei macht mich ganz rappelig.« Ich blicke zu Morfran. »Warum hast du mich gerufen? Warum hast du nicht über das Gänseblümchen ein Treffen verabredet, als ich hier angekommen bin, statt mir einen Gedankenfummler zu schicken?« Ich nicke in Thomas’ Richtung und verfluche mich sofort selbst, weil ich so vorlaut war. Für Frechheiten ist mein Kopf nicht fit genug.
»Ich
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