Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
als Witzfigur dar. Ich bekomme Lust, ihnen volle Bierdosen auf die Köpfe zu dreschen, und dabei ist mir völlig bewusst, dass ich absurderweise jemanden verteidige, den ich eigentlich töten will.
Ich blicke an ihnen vorbei zu Carmel, die nervös von einem Fuß auf den anderen tritt und sich im kalten Seewind die Arme um den Oberkörper geschlungen hat. Das feine blonde Haar weht im silbernen Mondlicht wie Spinnweben um ihr Gesicht.
»Kommt schon, Jungs, lasst uns hier verschwinden. Carmel wird nervös, und außer Spinnweben und Mäusen ist hier sowieso nichts zu holen.« Als ich an ihnen vorbei will, halten Mike und Chase mich an den
Armen fest. Will ist inzwischen wieder bei Carmel und redet leise mit ihr. Er beugt sich vor und deutet auf das wartende Auto. Sie schüttelt jedoch den Kopf und kommt einen Schritt näher. Er hält sie auf.
»Wir können doch nicht wegfahren, ohne einen Blick ins Haus geworfen zu haben«, protestiert Mike. Er und Chase drehen mich herum, fassen mich an den Schultern und schieben mich über die Zufahrt wie Gefängniswärter, die einen Insassen eskortieren.
»Na schön.« Ich widerspreche nicht ganz so entschieden, wie ich es eigentlich tun sollte. Ich winke Carmel zu, um ihr zu zeigen, dass alles in Ordnung ist, und schüttle die Hände der beiden ab.
Als ich den Fuß auf die erste vergammelte Treppenstufe der Veranda setze, spüre ich fast, wie sich das Haus zusammenzieht, als würde es tief einatmen und erwachen, nachdem es lange unberührt gewartet hat. Ich steige auch die letzten beiden Stufen hoch und bleibe allein vor der dunklen Tür stehen. Ich wünschte, ich hätte eine Taschenlampe oder eine Kerze. Es ist nicht zu erkennen, in welcher Farbe das Haus früher gestrichen war. Aus der Ferne dachte ich, es sei grau, und die Farbe falle in grauen Flecken herab. Jetzt, aus der Nähe, wirkt alles schwarz und vergammelt. Aber das ist ausgeschlossen. Niemand streicht ein Haus schwarz.
Die hohen Fenster neben der Tür sind mit Schmutz und Staub überzogen. Ich gehe nach links und reibe rasch kreisend ein Guckloch in die Fensterscheibe. Drinnen ist das Haus weitgehend leer, nur ein paar
vereinzelte Möbelstücke stehen herum. Mitten im ehemaligen Wohnzimmer entdecke ich ein Sofa, das mit einer weißen Plane geschützt ist. An der Decke hängen die Überreste eines Leuchters.
Trotz der Dunkelheit kann ich das Innere genau erkennen. Dort gibt es graue und blaue Farbtöne, deren Ursprung nicht zu entdecken ist. Das Licht wirkt seltsam. Zuerst kann ich es nicht einordnen, dann fällt mir auf, dass keiner der Gegenstände einen Schatten wirft.
Ein Flüstern erinnert mich an Mike und Chase. Ich will mich umdrehen und ihnen erklären, dass hier nichts ist, was ich nicht schon einmal gesehen hätte, erkenne aber im spiegelnden Fenster, dass Mike mit beiden Armen ein loses Brett erhoben hat und auf meinen Schädel zielt. Ich bekomme das Gefühl, dass ich sehr lange nichts mehr sagen werde.
Als ich aufwache, rieche ich Staub und habe den Eindruck, der größte Teil meines Kopfes liege zersplittert auf dem Boden. Ich blinzle. Bei jedem Atemzug steigt eine kleine graue Wolke von den unebenen Dielenbrettern auf. Dann drehe ich mich auf den Rücken und erkenne, dass der Kopf noch intakt ist, nur das Innere tut so weh, dass ich gleich wieder die Augen schließen muss. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und was ich getan habe, bevor ich hergekommen bin. Ich weiß nur, dass sich mein Gehirn anfühlt, als schwappte es frei im Kopf hin und her. Ein Bild erscheint vor meinem inneren Auge: Ein Neandertaler schwingt ein Brett.
Dann setzt sich das Puzzle zusammen. Noch einmal blinzle ich in dem seltsamen grauen Licht.
Das seltsame graue Licht. Ich reiße die Augen auf. Ich bin im Haus.
Mein Gehirn schüttelt sich wie ein Hund, der aus dem Wasser steigt und dem eine Million Fragen aus dem Pelz fliegen. Wie lange war ich bewusstlos? In welchem Raum bin ich? Wie komme ich hier wieder raus? Und natürlich die wichtigste Frage: Haben mich die Ärsche allein hier zurückgelassen?
Mikes Stimme beantwortet die letzte Frage.
»Siehst du? Ich wusste doch, dass ich ihn nicht umgebracht habe.« Er tippt mit dem Finger an die Scheibe, und ich drehe mich, bis ich sein idiotisch grinsendes Gesicht sehe. Er sagt irgendetwas Idiotisches nach dem Motto, ich sei ein toter Mann, und so etwas passiere eben mit Leuten, die ihm wegnehmen, was ihm gehört. In diesem Moment ruft Carmel, sie werde die Cops alarmieren,
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