Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
wollte, dass du schnell herkommst.« Er zuckt
die Achseln. »Ich kenne das Gänseblümchen, und er kennt dich. Er meinte, du magst es nicht, wenn jemand dir auf die Nerven geht. Trotzdem wollte ich wissen, wo du steckst. Geisterjäger hin oder her, du bist nur ein Junge.«
»Na gut«, sage ich. »Aber warum die Eile? Anna geht doch schon seit Jahrzehnten hier um.«
Morfran lehnt sich an die gläserne Theke und schüttelt den Kopf. »Anna hat sich verändert. Sie ist in der letzten Zeit wütender geworden. Ich habe eine Verbindung zu den Toten, die vielleicht sogar stärker ist als deine. Ich sehe sie und ich spüre, worüber sie nachdenken und was sie wollen. So ist es schon seit …«
Wieder zuckt er mit den Achseln. Da gibt es eine Geschichte. Wahrscheinlich ist es aber seine beste Geschichte, die er nicht gleich am Anfang verpulvern will.
Er reibt sich über die Schläfen. »Ich spüre es, wenn sie tötet. Jedes Mal, wenn ein Unglücklicher in ihr Haus stolpert. Früher war es nur ein Jucken zwischen den Schulterblättern. Jetzt dreht es mir den Magen um. Früher wäre sie garantiert nicht herausgekommen, um euch anzugreifen. Sie ist schon lange tot und nicht dumm, sie kennt den Unterschied zwischen einer leichten Beute und umsorgten Kindern. Aber sie wird nachlässig und dürfte früher oder später für Schlagzeilen sorgen. Und du weißt so gut wie ich, dass man manche Dinge besser geheim hält.«
Er setzt sich in einen Ohrensessel und klatscht sich mit der Hand auf das Knie. Ich höre das Klicken von Hundekrallen auf dem Boden. Gleich darauf watschelt
ein fetter, schwarzer Labrador mit grauer Nase herbei und legt ihm den Kopf in den Schoß.
Ich denke an die Ereignisse des vergangenen Abends. Sie war ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte, auch wenn es mir schwerfällt, mich an meine Erwartungen zu erinnern, nachdem ich sie nun gesehen habe. Vielleicht dachte ich, sie sei ein trauriges, ängstliches Mädchen, das aus Furcht und Elend tötet. Ich dachte, sie schlurft mit ihrem weißen Kleid und einem dunklen Fleck am Kragen die Treppe herunter. Ich dachte, sie hat ein doppeltes Lächeln, eins im Gesicht und eins am Hals, feucht und rot. Ich dachte, sie fragt mich, was ich in ihrem Haus will, und geht dann mit rasiermesserscharfen kleinen Zähnen auf mich los.
Stattdessen habe ich einen Geist gefunden, der so stark ist wie ein Sturm, mit schwarzen Augen und bleichen Händen. Keinen toten Menschen, sondern eher eine tote Göttin. Persephone, die aus dem Hades zurückgekehrt ist. Oder eine halb verweste Hekate.
Bei diesem Gedanken schaudere ich leicht, was ich aber vorsichtshalber auf den Blutverlust schiebe.
»Was willst du jetzt tun?«, fragt Morfran.
Ich betrachte den Beutel mit dem schmelzenden Eis, den mein aufgeweichter Schorf rot gefärbt hat. Als Erstes muss ich nach Hause und duschen und meine Mom davon abhalten, auszuflippen und mich mit Rosmarinöl zu überschütten.
Dann muss ich in die Schule, um bei Carmel und der Trojanerarmee Schadensbegrenzung zu betreiben. Wahrscheinlich haben sie nicht gesehen, wie Thomas
mich herausgezogen hat; möglicherweise halten sie mich für tot und beraten gerade unter dramatischen Umständen an einer Klippe, was sie jetzt tun sollen und wie sie das mit Mike und mir erklären sollen. Will wird sicher einige großartige Vorschläge beisteuern.
Danach muss ich wieder zum Haus. Ich habe gesehen, wie Anna tötet, und muss es unterbinden.
Was meine Mom angeht, habe ich Glück. Sie ist nicht zu Hause, als ich ankomme, und auf dem Küchentisch liegt ein Zettel, der mich auf das Essen im Kühlschrank hinweist. Sie hat nicht mit einem Herzchen oder so unterschrieben, also ist sie wütend, weil ich die ganze Nacht ausgeblieben bin, ohne anzurufen. Wenigstens kann ich mir jetzt in Ruhe eine Geschichte ausdenken, in der ich nicht blutig und bewusstlos geschlagen werde.
Mit Thomas habe ich weniger Glück. Er hat mich nach Hause gefahren und ist mir auf die Veranda gefolgt. Als ich aus der Dusche komme, pocht mein Kopf immer noch heftig, als hätte sich mein Herz direkt hinter den Augäpfeln eingerichtet. Thomas sitzt inzwischen am Küchentisch und versucht, Tybalt mit Blicken niederzuzwingen.
»Das ist keine gewöhnliche Katze«, sagt Thomas mit zusammengebissenen Zähnen. Er starrt Tybalt unverwandt in die grünen Augen, die einen Moment zu mir abirren, als wollten sie sagen: Was für einen Idioten hast du da mitgebracht? Die Schwanzspitze zuckt wie ein
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