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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
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gemacht haben. Wenn er mich jetzt in den Abgrund wirft, komme ich wahrscheinlich auf den nassen Felsen um, suche ihn dann nach meinem Tod auf und kann nicht ruhen, bis ich sein Herz gefressen habe.
    »Mike, immer mit der Ruhe«, sagt Will. »Wenn er eine Gespenstergeschichte hören will, kann er das haben. Wir könnten ihm die erzählen, mit der sich die Kinder auf der Junior High nachts wach halten.«
    »Was für eine Geschichte ist das?«, frage ich. Meine Nackenhaare sträuben sich.
    »Anna Korlov. Anna mit dem blutroten Kleid.«
    Der Name schwebt wie ein Tänzer durch die Dunkelheit. Zu hören, wie jemand anders ihn ausspricht, jagt mir einen Schauer über den Rücken.
    »Anna mit dem blutroten Kleid? So was wie Schneewittchen im gelben Kleid?«, scherze ich, um sie herauszufordern. Dann geben sie sich hoffentlich Mühe, die Geschichte und das Mädchen besonders schrecklich darzustellen, und genau das will ich erreichen. Will sieht mich jedoch mit einer komischen Miene an und fragt sich wohl, warum mir ausgerechnet der Disneyfilm eingefallen ist.
    »Anna Korlov ist mit sechzehn gestorben«, beginnt er nach einer kleinen Pause. »Jemand hat ihr die Kehle von einem Ohr bis zum anderen durchgeschnitten. Sie war zu einem Tanzabend in der Schule unterwegs, als es passiert ist. Die Leiche haben sie am nächsten Morgen entdeckt. Sie war schon mit Fliegen übersät, und ihr weißes Kleid war voller Blut.«
    »Heißt es nicht, es sei ihr Freund gewesen?« Chase betätigt sich als Stichwortgeber.
    »Das dachten sie vielleicht.« Will zuckt mit den Achseln. »Er hat nämlich ein paar Monate später die Stadt verlassen. Aber an dem Tanzabend haben ihn alle gesehen. Er hat nach Anna gefragt und gedacht, sie hätte ihn versetzt. Aber es ist egal, wie sie gestorben ist und wer sie getötet hat. Wichtig ist, dass sie nicht tot geblieben ist. Ungefähr ein Jahr nach ihrer Ermordung ist sie wieder in ihrem alten Haus aufgetaucht. Sechs Monate zuvor war es verkauft worden, nachdem Annas Mom an einem Herzinfarkt gestorben war. Ein Fischer hatte es gekauft und war mit seiner Familie eingezogen. Anna hat alle umgebracht, sie hat ihnen buchstäblich alle Gliedmaßen ausgerissen. Die Köpfe und Arme hat sie am Fuß der Treppe aufgestapelt, die Rümpfe hat sie im Keller aufgehängt.«
    Ich betrachte die bleichen Gesichter der kleinen Runde, die sich um uns versammelt hat. Einigen ist nicht wohl in ihrer Haut, Carmel eingeschlossen. Doch die meisten wirken eher neugierig und warten auf meine Reaktion.
    Ich atme schneller, gebe mir aber große Mühe, eine
gewisse Skepsis zu zeigen. »Woher willst du wissen, dass es nicht irgendein Vagabund war? Irgendein Psychopath, der ins Haus eingebrochen ist und die Familie überrascht hat?«
    »Es ist die Art und Weise, wie die Cops es vertuscht haben. Sie haben nie jemanden verhaftet und nicht einmal richtig ermittelt. Sie haben das Haus versiegelt und so getan, als sei weiter nichts passiert. Es hat besser funktioniert als erwartet. Die Leute sind sehr gern bereit, so etwas zu vergessen.«
    Ich nicke. Das ist wahr.
    »Außerdem hat jemand etwas mit Blut auf die Wände geschrieben. Anna taloni. Annas Haus.«
    Mike grinst. »Und davon mal abgesehen, niemand hätte die Leichen so verstümmeln können. Der Fischer war ein Kerl von hundertzwanzig Kilo. Sie hat ihm die Arme und den Kopf abgerissen. Man muss schon gebaut sein wie Dwayne Johnson, sich mit Crystal vollpumpen und sich eine Spritze Adrenalin direkt ins Herz jagen, um einem Mann von hundertzwanzig Kilo den Kopf abzureißen.«
    Ich schnaube ungläubig, und die Trojanerarmee lacht. »Er glaubt uns nicht«, höhnt Chase.
    »Er hat bloß Angst«, sagt Mike.
    »Haltet den Mund«, faucht Carmel und fasst mich am Arm. »Hör nicht auf sie. Die haben es auf dich abgesehen, seit sie bemerkt haben, dass wir Freunde werden könnten. Es ist lächerlich. Das sind dumme Jungs, die sich bei einer Schlafparty vor den Spiegel stellen und ›Bloody Mary‹ sagen.«
    Ich würde ihr gern erklären, dass dem keineswegs so ist, aber ich verzichte darauf, drücke beruhigend ihre Hand und drehe mich zu den anderen um.
    »Und, wo ist das Haus?«
    Natürlich wechseln sie Blicke, als hätten sie genau darauf gewartet.

Wir verlassen den Wasserfall und fahren nach Thunder Bay zurück. Unter gelben Laternen rollen wir dahin und fahren viel zu schnell über die Ampeln, deren Licht ich nur verschwommen wahrnehme. Chase und Mike haben die Fenster heruntergekurbelt und lachen,

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