Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
reden über Anna und übertreiben ihre Geschichte maßlos. Mir rauscht das Blut in den Ohren, ich achte kaum auf die Straßenschilder und vergesse, mir den Weg einzuprägen.
Sie mussten ein wenig tricksen, um die Party zu verlassen und die anderen zu überreden, weiter zu trinken und das Ende der Welt zu genießen. Carmel hat Natalie und Katie tatsächlich mit einem Ruf abgelenkt: »He, was ist das denn da?« Dann sind wir rasch in Wills Geländewagen gestiegen. Jetzt fahren wir durch die Sommernacht.
»Es ist ziemlich weit weg«, sagt Will zu mir. Mir fällt ein, dass er auch auf der Party am Trowbridge-Wasserfall der Fahrer war, der nüchtern geblieben ist. Ich werde neugierig. Wenn er das öfter macht, treibt er sich anscheinend mit diesen Trotteln herum, weil
er dazugehören will, ist aber so klug, sich zurückzuhalten. Sein Verhalten kommt mir so vor, als führte er die Figuren, ohne es jemanden merken zu lassen. »Sie hat weit draußen im Norden gelebt.«
»Was machen wir denn, wenn wir da sind?«, frage ich. Die anderen lachen.
Will zuckt mit den Achseln. »Ein paar Bier trinken, ein paar Flaschen auf das Haus werfen. Keine Ahnung. Spielt das eine Rolle?«
Nein, eigentlich nicht. Heute Nacht werde ich Anna nicht töten. Nicht, wenn all diese Leute dabei sind. Ich will nur dort sein, sie hinter einem Fenster spüren, wie sie mich beobachtet und anstarrt oder sich ins Haus zurückzieht. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass Anna Korlov mich beschäftigt wie kaum eine Erscheinung bisher. Den Grund dafür weiß ich selbst nicht. Abgesehen von ihr gibt es nur ein Wesen, das mich auch so in Anspruch nimmt und ähnlich starke Gefühle weckt. Es ist der Geist, der meinen Vater getötet hat.
Wir fahren am Lake Superior entlang, dessen Wellen mir etwas über die Toten zuflüstern, die da unten verborgen sind und mit trüben Augen und von Fischen zerfressenen Wangen zur Oberfläche hinaufschauen. Sie müssen warten.
Will biegt nach rechts auf eine unbefestigte Straße ab. Die Reifen des Geländewagens knirschen, als wir ruckelnd durch Schlaglöcherfahren. Mittlerweile kann ich auch das Haus erkennen. Es ist seit Jahren verlassen und steht schief, ein gedrungener schwarzer Umriss in
der dunklen Nacht. Am Ende der Zufahrt halten wir an, und ich steige aus. Die Scheinwerfer erfassen den unteren Teil des Hauses. Der graue Anstrich blättert von den verfaulten Brettern ab, Gras und Unkraut haben die Veranda in Besitz genommen. Die Zufahrt ist recht lang, wir sind immer noch mindestens dreißig Meter von der Tür entfernt.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, flüstert Chase. Ich weiß es bereits. Ich erkenne es an der Art und Weise, wie mir der Wind durch Haare und Kleidung streicht und sonst nichts berührt. Das Haus steht unter strenger Kontrolle und beobachtet uns. Ich mache einen Schritt darauf zu. Nach ein paar Sekunden höre ich hinter mir ein zögerndes Knirschen im Kies.
Im Gehen warnen sie mich vor Anna, die jeden tötet, der ihr Haus betritt. Sie wissen von Vagabunden, die hineingestolpert sind, auf der Suche nach einem Schlafplatz, und in der Nacht zerfleischt wurden. Natürlich können sie das nicht wissen, aber vermutlich entspricht es trotzdem der Wahrheit.
Hinter mir höre ich einen Knall und dann rasche Schritte.
»Das ist doch Blödsinn«, faucht Carmel. Es ist kälter geworden, und sie hat sich einen grauen Pullover über das Trägertop gezogen. Die Hände hat sie in die Rocktaschen geschoben, die Schultern lässt sie hängen. »Wir hätten auf der Party bleiben sollen.«
Niemand hört auf sie. Sie trinken Bier und reden laut, um ihre Nervosität zu überspielen. Ich schleiche vorsichtig
weiter zum Haus, lasse den Blick von Fenster zu Fenster wandern und achte auf Bewegungen, die es nicht geben dürfte. Ich ducke mich, als eine Bierdose dicht an meinem Kopf vorbeifliegt, auf der Zufahrt landet und wieder hochspringt, um schließlich auf der Veranda liegen zu bleiben.
»Anna! He, Anna! Komm doch zum Spielen raus, du totes Miststück!«
Mike lacht, und Chase wirft ihm eine neue Bierdose zu. Trotz der zunehmenden Dunkelheit erkenne ich, dass seine Wangen vom Alkohol stark gerötet sind. Er schwankt schon recht deutlich.
Ich blicke zwischen ihnen und dem Haus hin und her. So gern ich auch weiter nachforschen möchte, ich muss jetzt aufhören. Dies ist nicht der richtige Augenblick. Die Typen sind hier aufmarschiert und haben Angst, deshalb lachen sie über Anna und stellen sie
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