Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
schleudert, zieht mein bisheriges Leben nicht vor meinem inneren Auge vorbei. Was würde ich dabei auch schon sehen außer einer Serie ermordeter Geister? Vielmehr erscheinen vor mir die Bilder meiner eigenen Leiche: Auf einem durchbohrt die Lenksäule meinen Brustkorb, auf einem anderen ist mein Kopf verschwunden, und der Oberkörper hängt aus dem zerstörten Fenster.
Aus dem Nichts taucht ein Baum auf und nähert sich bedrohlich der Fahrertür. Ich habe nicht einmal mehr Zeit zu fluchen, sondern reiße das Lenkrad herum, gebe Gas und weiche dem Baum aus. Auf keinen Fall will ich bis auf die Brücke fahren. Das Auto schlittert jetzt über den Seitenstreifen, und den gibt es auf der Brücke nicht. Sie ist schmal und alt und besteht aus Holz.
»Tot sein ist gar nicht so schlimm.« Der Anhalter zerrt an meinem Arm, damit ich das Lenkrad loslasse.
»Und was ist mit dem Geruch?«, fauche ich. Die ganze Zeit habe ich den Messergriff nicht losgelassen. Fragen Sie nicht, wie ich das gemacht habe. Mein Handgelenk fühlt sich an, als wollten die Knochen gleich herausspringen, und ich bin vom Sitz gerutscht und hocke fast auf dem Schalthebel. Mit der Hüfte stoße ich ihn in die neutrale Stellung (das hätte ich schon längst tun sollen) und hebe rasch die Klinge.
Was als Nächstes passiert, ist eine Überraschung. Die Haut legt sich wieder über das Gesicht des Anhalters, seine Augen schimmern wieder grün. Auf einmal ist er nur noch ein junger Kerl, der mein Messer anstarrt. Ich bringe das Auto endgültig unter Kontrolle und steige wieder auf die Bremse.
Der Ruck überrascht ihn, er sieht mich an. »Ich habe den ganzen Sommer für das Geld gearbeitet«, sagt er leise. »Meine Freundin bringt mich um, wenn ich es verliere.«
Mein Herz rast vor Anstrengung, nachdem ich den schlingernden Wagen sicher zum Stehen gebracht habe. Ich will nicht mehr reden, ich will es nur noch hinter mich bringen. Aber ich antworte dann doch.
»Dein Mädchen wird dir verzeihen, das verspreche ich dir.« Der Dolch, der Athame meines Vaters, schmiegt sich in meine Hand.
»Ich will das nie wieder tun«, flüstert der Anhalter.
»Es ist das letzte Mal.« Dann stoße ich zu und ziehe ihm die Klinge durch die Kehle, wo sie eine gähnende schwarze Öffnung hinterlässt. Der Anhalter greift sich an den Hals und will die Haut zusammendrücken,
doch eine dunkle Masse quillt zähflüssig wie Öl aus der Wunde und läuft an ihm herunter, überzieht nicht nur die altmodische Jacke, sondern kriecht auch nach oben über das Gesicht, die Augen und in die Haare. Er schreit nicht, während er dahinschwindet. Vielleicht kann er das auch nicht, denn ich habe ihm ja die Kehle durchgeschnitten, und die schwarze Flüssigkeit füllt seinen Mund. Nach weniger als einer Minute hat er sich in Luft aufgelöst.
Ich streiche mit der Hand über den Sitz. Er ist trocken. Dann steige ich aus und umrunde das Auto, um nach Kratzern zu suchen, soweit das im Dunkeln möglich ist. Das Reifenprofil raucht noch, das Gummi ist geschmolzen. Ich höre schon Mr. Dean mit den Zähnen knirschen. Wir sind nur noch drei Tage hier, und einen dieser Tage muss ich nun damit verbringen, einen neuen Satz Goodyears aufzuziehen. Wenn ich es mir recht überlege, sollte ich ihm das Auto vielleicht erst zurückgeben, wenn die neuen Reifen montiert sind.
Es ist schon nach Mitternacht, als ich den Rally Sport in unsere Einfahrt lenke. Der drahtige Mr. Dean ist sicher noch auf, wie üblich mit schwarzem Kaffee vollgepumpt, und sieht mich vorsichtig die Straße hinunterfahren. Allerdings will er das Auto erst morgen zurückhaben. Wenn ich früh aufstehe, kann ich zur Werkstatt fahren und die Reifen austauschen, ehe er etwas bemerkt.
Als die Scheinwerfer in den Hof zielen und die Seitenwand unseres Hauses erfassen, leuchten zwei grüne Punkte auf. Die Katze meiner Mutter beobachtet mich. Als ich die Vordertür erreiche, ist sie längst von der Fensterbank gesprungen. Sie wird meiner Mutter ankündigen, dass ich nach Hause komme. Der Kater heißt Tybalt. Er ist ein unerzogenes Biest und hält nicht viel von mir. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Er hat die unschöne Angewohnheit, sich die Haare vom Schwanz abzureißen und überall im Haus kleine schwarze Büschel zu hinterlassen. Meine Mom hat aber gern eine Katze im Haus. Wie die meisten Kinder können Tiere Dinge sehen und hören, die
schon tot sind. Wenn man so lebt wie wir, ist das eine nützliche Fähigkeit.
Ich gehe rein, ziehe die Schuhe aus
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