Der Schmerzsammler: Thriller (German Edition)
2. Freitag
»Aber der Wolf fand sie alle und machte nicht langes Federlesen. Eins nach dem anderen schluckte er in seinen Rachen …«
Ich liebe diese Stelle, die Kinder fangen an zu quietschen und zu schreien, denn ich knurre und schmatze und reiße meinen Mund auf wie der Wolf. Erst wenn ich weiterlese und sie begreifen, dass ein Geißlein sich verstecken konnte, beruhigen sie sich. Und wenn der Wolf mit den Steinen im Bauch jämmerlich im Brunnen ersäuft, dann jubeln sie. Für einen so bösen Wolf kommt ja nur die Todesstrafe in Betracht. Wie sich Steine im Bauch wohl anfühlen?
Kleine Kinder ähneln mir in gewisser Weise. Sie sind gnadenlos, sie sind absolut, sie kennen kein Erbarmen. Der Wolf muss sterben, er ist böse. So wie Hexen. Alles was für Kinder böse ist, wird mit Stumpf und Stiel vernichtet. Ich mag kleine Kinder. Ich würde ihnen niemals etwas antun.
Die Leiterin der Kindertagesstätte St. Martin bedankt sich bei mir, dass ich trotz meines anstrengenden Berufs immer wieder die Zeit finde, den Kleinen vorzulesen. Die Einladung zum Kaffee lehne ich freundlich, aber bestimmt ab, ich muss jetzt alleine sein, ich muss nachdenken.
Mein Lieblingscafé liegt am Carlsplatz, am Eingang zur Altstadt, Plüschsessel, Kaffee in Kännchen, die Bedienung darf man »Fräulein« rufen. Ich bestelle eine heiße Schokolade, sie ist dick und schmeckt wirklich nach Schokolade. Ich habe diesen Ort der dezenten Dekadenz schnell ausfindig gemacht. Ich war erst zwei Monate in Düsseldorf, als ich während einerAufklärungstour hier vorbeikam, ich war auf der Suche nach einem geeigneten Gast, aber ich musste mit leeren Händen nach Hause fahren.
Manchmal laufen sie mir einfach über den Weg, manchmal muss ich suchen, und einige habe ich bereits gefunden. Sie müssen bestimmte Eigenschaften besitzen, damit ich mit ihnen arbeiten kann. Sie dürfen nicht in meinem Viertel wohnen. Sie müssen gesund sein. Sie müssen alleine sein, niemand darf sie vermissen. Ob sie die wichtigste aller Eigenschaften besitzen, erkenne ich erst, wenn sie mit mir arbeiten.
Morgen lade ich einen Kandidaten ein, von dem ich mir viel verspreche, der alles mitbringt, was ihn zu einem Ausnahmeexemplar macht. Ich hake ihn auf meiner Liste ab.
Wer wird noch das Vergnügen haben? Eine Sängerin, eine Polizistin, ein Bauarbeiter, ein Bankangestellter. Meine Liste ist nicht mehr sehr lang. Viele habe ich schon abgearbeitet.
Es ist gar nicht so einfach, Menschen zu finden, die wirklich einsam sind, die niemand vermissen würde. Obwohl viel mehr Menschen alleine wohnen, sind sie nicht isoliert. Es bilden sich neue soziale Netze, es wird mir wirklich nicht einfach gemacht. Studenten zum Beispiel. Bis jetzt habe ich noch nicht einen gefunden, der nicht eingebunden ist in ein Beziehungsgeflecht. Die Gesellschaft verändert sich. Die Familie verliert ihren Anspruch auf die heilige Stütze der Gesellschaft. Immer mehr wird das Individuum zum Träger eines stabilen Gemeinwesens. Das ist eine gute Entwicklung, denn Familie ist nur eine Illusion, eine Chimäre, ein Betrug. Familie ist Lügengespinst, Familie ist die Hölle.
Ich schlürfe den letzten Rest der heißen Schokolade.
Es gibt noch jemanden, den ich vielleicht einladen werde. Jemand, der auf seltsame Weise mit mir verbunden ist. Aber ich würde ihn nicht zum Arbeiten einladen, sondern zumPlaudern über Gott und die Welt. Und vielleicht würde ich ihn fragen, was es bedeutet, ein guter Vater zu sein, aber es wäre keine echte Frage, denn ich weiß die Antwort. Ich verschiebe die Entscheidung. Die Erkenntnis, dass es diesen Menschen gibt, ist noch zu neu – und auch ein wenig schmerzhaft. Ich verdränge, dass es ihn gibt, wende mich den wichtigen Dingen zu, denn heute ist der erste Tag des Countdowns. Mein Plan ist endlich fertig. Ich und mein Team, dessen Mitgliederfluktuation recht hoch ist, – bisher waren es dreiundzwanzig – haben fast zwei Jahre daran gearbeitet. Mein Herz klopft ein wenig fester. Vorfreude pulst durch meine Adern. Nun denn. Lasset die Kinderlein zu mir kommen!
*
»Fran ist gesprungen!« Bruno Rheinstahl ließ seinen massigen Kopf hängen, den nur noch ein paar Überreste einer ehemals üppigen Haarpracht zierten. »Verdammt!« Er hob den Kopf und blickte seinem Kollegen Günther Anleder direkt ins Gesicht. »Das freut dich, was?«
»Da kannst du Gift drauf nehmen.« Anleder rückte seine rechteckige schwarze Brille zurecht, ohne die er gegen jeden Türpfosten
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