Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
Tee anbot.
    »Nicht so ganz, Gräfin. Natürlich, sein Unglück ...«
    »Ja, ein Unglück, das für ihn das größte Glück geworden ist, da sein Herz sich erneuert hat und nun Seiner voll
    ist«, unterbrach sie ihn und blickte ihn verliebt an.
    ›Ich meine, ich kann sie bitten, bei beiden ein gutes Wort für mich einzulegen‹, dachte Stepan
    Arkadjewitsch.
    »O gewiß, Gräfin«, erwiderte er. »Aber ich denke, diese Veränderungen sind von so tiefinnerlicher Art, daß
    niemand, nicht einmal jemand, der ihm besonders nahesteht, gern davon spricht.«
    »Im Gegenteil! Wir müssen davon sprechen und einer dem andern helfen.«
    »Ja, ohne Zweifel; aber die Anschauungen sind oft so stark verschieden, und außerdem ...«, versetzte Oblonski
    mit einem weichen Lächeln.
    »Wo es sich um die heilige Wahrheit handelt, kann es keine Verschiedenheit der Anschauungen geben.«
    »Gewiß nicht; aber ...« Hier geriet Stepan Arkadjewitsch in Verlegenheit und verstummte. Er merkte, daß von
    Religion die Rede war.
    »Ich glaube, er wird gleich einschlafen«, sagte in bedeutsamem Flüstertone Alexei Alexandrowitsch, der wieder zu
    Lydia Iwanowna trat.
    Stepan Arkadjewitsch sah sich um. Landau saß am Fenster, sich mit den Ellbogen auf die Armlehnen und gegen die
    Rückenlehne des Sessels stützend; den Kopf hielt er gesenkt. Als er die auf ihn gerichteten Blicke bemerkte, hob er
    den Kopf in die Höhe und lächelte in kindlich einfältiger Weise.
    »Achten Sie nicht auf ihn«, sagte Lydia Iwanowna und rückte mit einer leichten Bewegung einen Stuhl für Alexei
    Alexandrowitsch zurecht. »Ich habe bemerkt ...«, begann sie, aber da trat gerade der Diener mit einem Brief ins
    Zimmer. Lydia Iwanowna überflog eilig mit den Augen den Inhalt und schrieb dann, die Herren um Entschuldigung
    bittend, am Schreibtisch mit außerordentlicher Schnelligkeit eine Antwort, übergab sie dem Diener und kehrte an den
    runden Tisch zurück. »Ich habe bemerkt«, setzte sie den angefangenen Satz fort, »daß die Moskauer, namentlich die
    Männer, in religiösen Dingen eine ganz auffallende Gleichgültigkeit an den Tag legen.«
    »O nicht doch, Gräfin. Ich meine, die Moskauer stehen gerade in dem Rufe besonderen Ernstes in Glaubenssachen«,
    entgegnete Stepan Arkadjewitsch.
    »Nun, soweit ich das beurteilen kann, gehören gerade Sie leider zu den Gleichgültigen«, sagte, sich zu ihm
    wendend, Alexei Alexandrowitsch mit müdem Lächeln.
    »Wie kann man nur gleichgültig sein!« bemerkte Lydia Iwanowna.
    »Ich bin in dieser Hinsicht nicht eigentlich gleichgültig, sondern im Zustande des Wartens«, erwiderte Stepan
    Arkadjewitsch mit seinem sanftesten, gewinnendsten Lächeln. »Ich glaube nicht, daß für mich schon die Zeit gekommen
    ist, mich in diese Gedanken zu vertiefen.«
    Alexei Alexandrowitsch und Lydia Iwanowna wechselten einen Blick miteinander.
    »Wir können niemals wissen, ob für uns die Zeit gekommen ist oder nicht«, versetzte Alexei Alexandrowitsch
    streng. »Wir dürfen nicht überlegen, ob wir bereit sind oder nicht; die himmlische Gnade läßt sich nicht durch
    Erwägungen, die der Mensch anstellt, leiten; manchmal bleibt sie denen fern, die sich nach ihr mühen, und wendet
    sich zu denen, die es nicht erwartet haben, wie zu Saulus.«
    »Nein, es ist doch wohl noch nicht soweit«, sagte Lydia Iwanowna, die unterdes die Bewegungen des Franzosen mit
    den Augen verfolgt hatte. Landau stand auf und trat zu ihnen.
    »Ist es erlaubt, zuzuhören?« fragte er.
    »O gewiß, ich wollte Sie nur nicht stören«, antwortete Lydia Iwanowna und sah ihn zärtlich an. »Setzen Sie sich
    zu uns.«
    »Man muß nur die Augen geöffnet halten, um nicht des Lichtes, wenn es kommt, unteilhaftig zu bleiben«, fuhr
    Alexei Alexandrowitsch fort.
    »Ach, wenn Sie die Glückseligkeit kennten, die uns das Bewußtsein Seiner immerwährenden Anwesenheit in unserer
    Seele verleiht!« sagte die Gräfin Lydia Iwanowna mit einem entzückten Lächeln.
    »Aber der Mensch fühlt sich manchmal unfähig, sich zu einer solchen Höhe zu erheben«, bemerkte Stepan
    Arkadjewitsch. Er war sich zwar bewußt, daß er wider sein Gewissen handelte, indem er ein Schweben der Seele in so
    hohen Regionen als möglich zugab; aber doch konnte er sich nicht entschließen, sich als Freidenker einer Person
    gegenüber zu bekennen, die nur ein Wort zu Pomorski zu sagen brauchte, um ihm die gewünschte Stelle zu
    verschaffen.
    »Das heißt, Sie wollen sagen, daß ihn die Sünde daran

Weitere Kostenlose Bücher