Anna Karenina
Champagner in einem Restaurant
mit tatarischer Bedienung erholte er sich wieder einigermaßen; hier befand er sich doch wieder in einer Luft, in
der er atmen konnte. Aber trotzdem war ihm diesen ganzen Abend über nicht recht wohl zumute.
Bei seiner Rückkehr in die Wohnung Peter Oblonskis, bei dem er in Petersburg wohnte, fand er einen Brief von
Betsy vor. Sie schrieb ihm, sie wünsche lebhaft, das begonnene Gespräch zu Ende zu führen, und bat ihn, sie morgen
nochmals zu besuchen. Kaum hatte er diese Zeilen mit gerunzelter Stirn durchgelesen, als sich unten schwere Tritte
von Männern hören ließen, die irgendwelche Last trugen.
Stepan Arkadjewitsch ging hinaus, um nachzusehen. Es war der wieder jung gewordene Peter Oblonski. Er war so
betrunken, daß er die Treppe nicht hinaufsteigen konnte; aber als er Stepan Arkadjewitsch erblickte, befahl er den
Leuten, ihn auf die Beine zu stellen, klammerte sich an ihn fest und ging so mit seinem Gaste nach dessen Zimmer;
dort fing er an, ihm zu erzählen, wie er den Abend verbracht habe, und schlief gleich dort ein.
Stepan Arkadjewitsch war, was bei ihm nur selten vorkam, sehr niedergeschlagen und konnte lange nicht
einschlafen. Alles, woran er nur dachte, war widerwärtig; aber als das Allerwiderwärtigste und geradezu als etwas
Beschämendes stand unter seinen Erinnerungen dieser Abend bei der Gräfin Lydia Iwanowna da.
Am anderen Tage empfing er von Alexei Alexandrowitsch dessen endgültige Weigerung, in die Scheidung von Anna zu
willigen, und konnte nicht darüber in Zweifel sein, daß dieser Entschluß sich auf die Äußerungen gründete, die der
Franzose gestern in seinem wirklichen oder verstellten Schlafe getan hatte.
Fußnoten
1 (frz.) Mein Freund ... geben Sie ihm die
Hand. Sehen Sie?
2 (frz.) Die Person, die zuletzt gekommen
ist, diejenige, die fragt, soll gehen. Soll gehen!
3 (frz.) Sie werden mich entschuldigen,
aber Sie sehen ... Kommen Sie gegen zehn Uhr wieder, besser noch morgen.
4 (frz.) Ich bin gemeint, nicht wahr?
23
Wenn es im Familienleben zu irgendwelchem Unternehmen von Wichtigkeit kommen soll, so ist entweder völlige
Zwietracht zwischen den Ehegatten oder liebevolles Einvernehmen erforderlich. Wenn jedoch weder das eine noch das
andere vorliegt, sondern das wechselseitige Verhältnis der Ehegatten von unbestimmter Art ist, dann kann nichts zur
Ausführung gelangen.
Viele Familien bleiben ein Jahr nach dem andern an demselben Orte wohnen, obwohl er beiden Ehegatten zuwider
geworden ist, lediglich deshalb, weil zwischen ihnen weder vollständige Zwietracht noch vollständiges Einvernehmen
besteht.
Das Moskauer Leben in Hitze und Staub, jetzt, wo die Sonne nicht mehr frühlingsmäßig, sondern recht sommerlich
schien und alle Bäume auf den Straßen schon längst Blätter bekommen hatten und diese Blätter schon mit Staub
bedeckt waren, dieses Leben fanden Wronski und Anna beide unerträglich; aber statt nach Wosdwischenskoje
überzusiedeln, wie sie das schon längst beschlossen hatten, blieben sie immer länger in dem ihnen beiden zuwider
gewordenen Moskau wohnen, weil eben in der letzten Zeit zwischen ihnen keine Eintracht herrschte.
Die zwischen ihnen bestehende gereizte Stimmung hatte keine äußere Ursache, und alle Versuche einer
gegenseitigen Aussprache dienten nicht zur Beseitigung dieser Stimmung, sondern im Gegenteil zu ihrer Verschärfung.
Diese gereizte Stimmung kam von innen her und hatte bei Anna ihren Grund in dem Schwächerwerden seiner Liebe und
bei Wronski in der Reue darüber, daß er sich um ihretwillen in eine so peinliche Lage gebracht habe, die sie ihm,
statt sie ihm zu erleichtern, immer noch schwerer mache. Keiner von beiden sprach sich über den Grund seiner
Gereiztheit aus; aber jeder von ihnen war überzeugt, daß der andere im Unrecht sei, und bemühte sich bei jedem
Anlaß, es ihm zu beweisen.
Nach Annas Anschauung ließ sich sein ganzes Wesen, mit allen seinen Gewohnheiten, Gedanken und Wünschen, mit
seinem ganzen seelischen und körperlichen Sein, auf einen einzigen Punkt zurückführen: auf Liebe zum andern
Geschlecht, und diese Liebe sollte sich, nach ihrem Rechtsgefühl, ausschließlich auf ihre eigene Person richten.
Seine Liebe zu ihr hatte sich vermindert; folglich mußte er nach ihrem Urteile einen Teil seiner Liebe anderen
Frauen oder wenigstens einer anderen Frau zuwenden – und sie wurde eifersüchtig. Sie war nicht auf irgendeine
bestimmte Frau
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