Anna Karenina
aufopfernde Anspannung aller Kräfte für die Arbeit in Erscheinung tritt, wie sie in
anderen Lebensverhältnissen nicht vorkommt, eine Anstrengung, die sehr hoch bewertet werden würde, wenn die
Menschen, die diese trefflichen Eigenschaften an den Tag legen, sie selbst zu schätzen verständen, und wenn sich
der gleiche Vorgang nicht alle Jahre wiederholte, und wenn die Ergebnisse dieser Anspannung nicht gar so einfacher
Natur wären.
Den Roggen und den Hafer zu schneiden und einzufahren, die Wiesen zu mähen, die Brache aufzuackern, das Korn zu
dreschen und die Wintersaat auszusäen, all das sieht so einfach und gewöhnlich aus; aber um mit alledem rechtzeitig
fertig zu werden, muß die gesamte Bevölkerung eines Dorfes, alt und jung, diese drei, vier Wochen ohne
Unterbrechung dreimal soviel wie gewöhnlich arbeiten, sich dabei von Kwaß, Zwiebeln und Schwarzbrot nähren, bei
Nacht die Garben ausdreschen und das Stroh fortschaffen und sich nicht mehr als zwei bis drei Stunden Schlaf für
den Tag gönnen. Und so spielt sich das alljährlich in ganz Rußland ab.
Ljewin, der den größten Teil seines Lebens auf dem Lande und in enger Berührung mit dem Landvolke verbracht
hatte, fühlte jedesmal in dieser Arbeitszeit, daß die allgemeine Aufregung des Volkes sich auch ihm mitteilte.
Am frühen Morgen dieses Tages war er zur ersten Roggensaat hinausgeritten und zum Hafer, der in Schober
zusammengefahren wurde. Dann war er nach Hause zurückgekehrt, hatte mit seiner Frau und mit seiner Schwägerin, die
inzwischen aufgestanden waren, Kaffee getrunken und war darauf zu Fuß nach dem Vorwerk gegangen, wo die neu
aufgestellte Dreschmaschine zur Gewinnung des Saatkorns in Gang gesetzt werden sollte.
Diesen ganzen Tag über dachte Ljewin, während er mit dem Verwalter und den Bauern und zu Hause mit seiner Frau
und mit Dolly und mit ihren Kindern und mit seinem Schwiegervater sprach, immer an den einen Gegenstand, der ihn in
dieser Zeit neben seinen wirtschaftlichen Sorgen beschäftigte, und suchte in allem eine Beziehung zu seiner Frage:
›Was bin ich denn? Und wo bin ich? Und wozu bin ich hier?‹
Ljewin stand in dem kühlen Raum der neugedeckten Getreidedarre mit dem noch nicht abgeblätterten, noch duftenden
Laubwerk der Dünnlatten aus Hasel, die auf den frisch abgeschälten espenen Sparren des Strohdaches ruhten, und
blickte bald durch das offene Tor, in dem der trockene, bittere Staub vom Dreschen umherflog, auf das von der
heißen Sonne beschienene Gras der Tenne und auf das frische, soeben aus der Scheune herausgebrachte Stroh, bald
nach den buntköpfigen, weißbrüstigen Schwalben, die pfeifend unter das Dach geflogen kamen und mit den Flügeln
flatternd in der freien Öffnung des Tores einen Augenblick auf einem Fleck schwebten, bald nach den Menschen, die
sich in der dunklen, staubigen Darre umherbewegten; und es kamen ihm seltsame Gedanken:
›Wozu geschieht das alles?‹ dachte er. ›Wozu stehe ich hier und halte sie zur Arbeit an? Warum tummeln sie sich
alle so geschäftig und bemühen sich, in meiner Gegenwart ihren Eifer zu zeigen? Warum müht sich diese alte Matrona,
meine gute Bekannte, so ab? (Ich habe sie geheilt, als bei dem Brande ihres Hauses ein Balken auf sie gefallen
war)‹, dachte er, indem er nach einer hageren alten Frau blickte, die, mit der Harke das Korn heranholend, eifrig
mit den bloßen, von der Sonne schwarzgebrannten Füßen auf dem unebenen, harten Dreschboden hin und her ging.
›Damals ist sie noch wieder gesund geworden; aber wenn nicht heute oder morgen, so doch in zehn Jahren wird man sie
einscharren, und es wird nichts von ihr übrigbleiben; auch von dieser geputzten Dirne da im roten Rock; die mit so
geschickten, weichen Bewegungen die Ähren aus der Spreu zurückwirft, wird einmal nichts übrigbleiben, auch sie wird
man einscharren, und diesen scheckigen Wallach, und den sehr bald‹, dachte er, indem er auf das schwer an seinem
Bauche tragende und hastig mit aufgeblähten Nüstern atmende Pferd blickte, das unablässig auf das abschüssige,
unter seinem Gewichte sich bewegende Tretrad trat. ›Auch dieses Tier wird man einscharren, und auch den Zureicher
Fjodor wird man einscharren, mit seinem krausen Bart, der ganz voll Spreu sitzt, und mit seinem Hemd, das auf
seiner weißen Schulter ein Loch hat. Und jetzt reißt er da die Garben auf und kommandiert und schreit die Weiber an
und schiebt mit einer schnellen Bewegung den Riemen auf
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