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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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gemacht; ich habe meinen Herrn erkannt.
    Früher sagte ich, daß in meinem Körper und in dem Körper dieses Grashalmes und dieses Käfers (er hat nicht auf
    den anderen Halm hinüberkriechen wollen, sondern hat seine Flügel ausgebreitet und ist weggeflogen) sich nach
    physikalischen, chemischen und physiologischen Gesetzen ein Wechsel des Stoffes vollziehe. Und in uns allen, auch
    in den Espen und in den Wolken und in den Nebelflecken, vollziehe sich eine Entwicklung. Eine Entwicklung aus
    welchem Zustande und in welchen Zustand? Eine endlose Entwicklung, ein endloses Ringen ... Als ob es im Unendlichen
    irgendwelche Richtung und irgendwelchen Kampf geben könnte! Und ich habe mich gewundert, daß, trotz der größten
    Anstrengung meines Denkens auf diesem Wege, sich mir doch der Zweck des Lebens, das Ziel meines inneren Dranges und
    Strebens nicht erschließen wollte. Jetzt aber sage ich: ich kenne den Zweck meines Lebens: für Gott leben, für die
    Seele leben. Und dieser Zweck ist, seiner Klarheit unbeschadet, geheimnisvoll und wunderbar. Und denselben Zweck
    hat alles, was besteht. Ja, es war bei mir Hochmut‹, sagte er zu sich, drehte sich auf den Bauch herum und begann
    Grashalme zusammenzuknoten, ohne sie einzuknicken.
    ›Und nicht nur Hochmut des Verstandes, sondern auch Torheit des Verstandes. Und vor allen Dingen: eine
    Spitzbüberei des Verstandes, geradezu eine Spitzbüberei des Verstandes, geradezu ein Gaunerstreich des Verstandes‹,
    sagte er ein über das andere Mal.
    Und er wiederholte sich in Kürze den ganzen Gang seiner Gedanken während dieser letzten zwei Jahre, dessen
    Ausgangspunkt der klare, deutliche Gedanke an den Tod beim Anblick des geliebten, hoffnungslos erkrankten Bruders
    gewesen war.
    Als er damals zum ersten Male klar erkannt hatte, daß einem jeden Menschen, und auch ihm selbst, die Zukunft
    nichts weiter biete als Leiden, Tod und ewiges Vergessensein, da hatte er sich mit aller Entschiedenheit gesagt, so
    könne er nicht leben; entweder müsse er zu einer solchen Auffassung seines Lebens gelangen, daß es ihm nicht als
    der boshafte Hohn irgendeines Teufels erscheine, oder er müsse sich erschießen.
    Aber er hatte weder das eine noch das andere getan, sondern weiter gelebt, gedacht und gefühlt und hatte sich
    sogar gerade in dieser Zeit verheiratet und viele Freuden kennengelernt und war glücklich gewesen, wenn er nicht
    gerade über die Bedeutung seines Lebens nachdachte.
    Wie war das zugegangen? Das war so zugegangen: sein Leben war gut gewesen, aber sein Denken schlecht.
    Er hatte (ohne sich dessen bewußt zu sein) gelebt auf der Grundlage jener geistigen Wahrheiten, die er mit der
    Muttermilch eingesogen hatte; aber wenn er begonnen hatte zu denken, hatte er diese Wahrheiten verleugnet und
    geflissentlich umgangen.
    Jetzt nun war es ihm klargeworden, daß er nur dank jener Glaubenswahrheiten, in denen er erzogen war, leben
    könne.
    ›Was würde ich denn für ein Mensch sein, und wie würde ich mein Leben zubringen, wenn ich diese
    Glaubenswahrheiten nicht hätte, nicht wüßte, daß man für Gott leben muß und nicht für den eigenen Vorteil? Ich
    würde rauben, lügen, morden. Nichts von dem, was die größten Freuden meines Lebens ausmacht, würde für mich
    dasein.‹ Und selbst mit äußerster Anstrengung seiner Einbildungskraft vermochte er sich nicht das tierische Wesen
    vorzustellen, das er selbst sein würde, wenn er nicht wüßte, wozu er lebte.
    ›Ich habe eine Antwort auf meine Frage gesucht. Aber eine Antwort auf meine Frage konnte mir das Denken nicht
    geben; es ist mit dieser Frage nicht zu messen. Das Leben selbst hat mir die Antwort gegeben durch mein Wissen
    darüber, was gut und was schlecht ist. Aber dieses Wissen habe ich durch nichts erworben, sondern es ist mir wie
    allen anderen Menschen gegeben worden, gegeben, weil ich es eben nirgendwo hätte hernehmen können.
    Woher habe ich dieses Wissen? Bin ich etwa durch den Verstand zu der Überzeugung gelangt, daß man seinen
    Nächsten lieben und nicht erwürgen müsse? Nein, sondern man hat mir das in meiner Kindheit gesagt, und ich habe es
    freudig geglaubt, weil man mir das sagte, was schon von vornherein in meiner Seele vorhanden war. Und wer hat das
    entdeckt? Nicht der Verstand. Der Verstand hat den Kampf ums Dasein entdeckt und das Gesetz, das verlangt, daß ich
    alle erwürgen soll, die mich an der Befriedigung meiner Wünsche hindern. Das ist das Ergebnis des Verstandes. Aber
    den Satz,

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