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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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fühlte, daß in seiner Seele etwas Neues entstanden war, und tastete mit Genuß an diesem Neuen herum, ohne
    noch zu wissen, was dieses Neue eigentlich sei.
    ,Nicht für seinen Vorteil leben, sondern für Gott. Für was für einen Gott? Und kann man etwas Sinnloseres sagen
    als das, was er gesagt hat? Er hat gesagt, man müsse nicht für seinen Vorteil leben, das heißt, man müsse nicht für
    das leben, was uns verständlich ist, wozu es uns hinzieht, was wir gern haben, sondern man müsse für etwas
    Unbegreifliches leben, für Gott, den doch niemand zu begreifen oder zu bestimmen vermag. Und doch: habe ich etwa
    diese sinnlosen Worte Fjodors nicht verstanden? Oder habe ich sie zwar verstanden, aber an ihrer Richtigkeit
    gezweifelt? Habe ich sie für töricht, undeutlich, unzutreffend gehalten?
    Nein, ich habe verstanden, was er sagte, und ganz in der Weise, wie er selbst es versteht; ich habe es
    vollständiger und klarer verstanden, als ich irgend etwas im Leben verstehe, und nie in meinem Leben habe ich daran
    gezweifelt und werde auch nie daran zweifeln können. Und so geht es nicht mir allein, sondern allen, der ganzen
    Welt; das ist das einzige, was alle vollständig verstehen, das einzige, woran niemand zweifelt, das einzige,
    worüber alle einig sind.
    Und ich habe nach Wundern verlangt, ich habe es beklagt, daß ich kein Wunder gesehen habe, weil ich meinte, ein
    Wunder würde mich überzeugt haben. Aber an einem stofflichen Wunder hätte ich Anstoß genommen. Und hier ist ein
    Wunder, das einzig mögliche, stets vorhandene, das mich von allen Seiten umgibt, und ich habe es nicht bemerkt!
    Fjodor sagt, der Herbergswirt Kirillow lebe für seinen Bauch. Daß er so lebt, ist begreiflich; es entspricht der
    Vernunft. Wir alle, als vernunftbegabte Wesen, können nicht anders leben als für den Bauch. Und nun sagt auf einmal
    dieser selbe Fjodor, es sei etwas Schlechtes, für den Bauch zu leben, man müsse für die Gerechtigkeit, für Gott
    leben, und ich verstehe aus dieser bloßen Andeutung, was er meint! Und ich und die Millionen von Menschen, die all
    diese Jahrhunderte her gelebt haben und jetzt leben, die Bauern, die geistig Armen und die Weisen, die darüber
    nachgedacht und darüber geschrieben haben und in ihrer unklaren Sprache dasselbe sagen: wir alle sind in diesem
    einen Punkte einig: wozu wir leben müssen und was das Gute sei. Ich und alle anderen Menschen, wir besitzen nur ein
    einziges, sicheres, zweifelloses, klares Wissen; und dieses Wissen kann nicht durch die Vernunft erklärt werden;
    denn es liegt außerhalb der Vernunft, es hat keine Ursachen und kann keine Folgen haben.
    Wenn das Gute eine Ursache hat, so ist es nicht mehr das Gute; wenn es eine Folge hat, einen Lohn, so ist es
    ebenfalls nicht das Gute. Somit steht das Gute außerhalb der Kette der Ursachen und Folgen.
    Und dieses Gute kenne ich, und wir alle kennen es.
    Was kann es denn noch für ein Wunder geben, das größer wäre als dieses?
    ›Habe ich wirklich die Lösung der ganzen Frage gefunden? Haben wirklich meine Leiden jetzt ein Ende?‹ dachte
    Ljewin, während er auf der staubigen Landstraße dahinschritt und weder von Hitze noch von Müdigkeit etwas merkte,
    sondern nur das Gefühl der Linderung eines langen Leidens hatte. Dieses Gefühl war so wonnig, daß er gar nicht
    recht daran glauben wollte. Vor Erregung konnte er kaum atmen; er fühlte sich nicht imstande weiterzugehen, bog vom
    Wege ab in den Wald und setzte sich im Schatten der Espen auf das noch ungemähte Gras. Er nahm den Hut von dem
    schweißbedeckten Kopfe und legte sich, auf den Ellbogen gestützt, auf das saftige, breithalmige Waldgras.
    ›Ja, ich muß mir das klarmachen und zum vollen Verständnis bringen‹, dachte er, indem er unverwandt auf das
    unzerdrückte Gras blickte, das er vor sich hatte, und die Bewegungen eines grünen Käferchens verfolgte, das an
    einem Queckenhalm emporkroch und in seinem Aufsteigen durch ein Bärenklaublatt gehindert wurde. ›Was habe ich denn
    entdeckt?‹ fragte er sich, drehte das Bärenklaublatt beiseite, damit es den Käfer nicht weiter behindere, und bog
    einen anderen Halm heran, damit der Käfer auf diesen übergehe. ›Was freut mich denn so? Was habe ich entdeckt?
    Ich habe nichts entdeckt. Ich habe nur erkannt, was ich immer schon wußte. Ich habe die Kraft begriffen, die mir
    nicht nur in der Vergangenheit das Leben gegeben hat, sondern mir auch jetzt das Leben gibt. Ich habe mich von der
    Täuschung frei

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