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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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daß man einen anderen Menschen lieben solle, den hat der Verstand nicht entdecken können, weil dieser
    Satz dem Verstande zuwiderläuft.‹

13
    Hier erinnerte sich Ljewin an einen Vorfall, der sich vor kurzem mit Dolly und ihren Kindern zugetragen hatte.
    Die Kinder, die allein geblieben waren, hatten angefangen, Himbeeren über den Kerzen zu schmoren und sich
    gegenseitig Milch wie aus einem Brunnenrohr in den Mund zu gießen. Die Mutter hatte sie dabei betroffen und ihnen
    in Ljewins Gegenwart vorgehalten, wieviel Arbeit es die Erwachsenen gekostet habe, das herzustellen, was sie da
    vergeudeten, und daß diese Arbeit um ihretwillen geleistet werde, und daß, wenn sie die Tassen entzwei machten, sie
    nichts haben würden, um daraus Tee zu trinken, und wenn sie die Milch vergössen, sie keine Nahrung haben und vor
    Hunger umkommen würden.
    Es hatte Ljewin überrascht, mit welchem stillen, trüben Unglauben die Kinder diese Lehren der Mutter anhörten.
    Es hatte ihnen nur leid getan, daß ihr lustiges Spiel nun zu Ende war, und sie hatten kein Wort von dem geglaubt,
    was die Mutter gesagt hatte. Sie hatten es auch nicht glauben können, weil sie nicht imstande waren, den ganzen
    Umfang dessen, wovon sie Nutzen zogen, zu ermessen, und sich darum auch nicht vorstellen konnten, daß das, was sie
    da zerstörten, dasselbe sei, wovon sie lebten.
    ›Das ist alles von selbst da‹, dachten sie, ›und daran ist nichts Besonderes und Wichtiges; denn das ist immer
    dagewesen und wird immer dasein. Und es ist immer ein und dasselbe. Darüber brauchen wir nicht nachzudenken; das
    ist immer ohne weiteres so da; aber wir möchten uns gern etwas Eigenes, Neues ausdenken. Da haben wir uns nun ein
    Spiel erfunden, Himbeeren in eine Tasse zu tun und sie über dem Lichte zu schmoren und einander die Milch von oben
    in einem Strahle gerade in den Mund zu gießen. Das ist lustig und etwas Neues und doch gewiß nicht eine schlechtere
    Handlung, als aus den Tassen zu trinken.
    Tun wir denn nicht dasselbe, habe ich denn nicht dasselbe getan, als ich mit dem Verstande das Wesen der
    Naturkräfte und den Zweck des menschlichen Lebens zu erkennen suchte?‹ dachte er weiter.
    ›Und tun denn nicht alle philosophischen Lehren dasselbe, wenn sie den Menschen auf einem seltsamen
    Gedankenwege, der seinem Charakter gar nicht entspricht, zu der Erkenntnis dessen führen, was er schon lange weiß
    und mit solcher Sicherheit weiß, daß er ohne dieses Wissen überhaupt nicht leben könnte? Merkt man es nicht bei
    jedem Philosophen der Darlegung seiner Lehre deutlich an, daß er ebenso zweifellos wie der Bauer Fjodor (aber
    keineswegs mit größerer Klarheit als dieser) den Hauptzweck des Lebens im voraus kennt und nur auf dem
    zweifelhaften Wege des Verstandes wieder zu dem zurückkehren will, was allen von vornherein bekannt ist?
    Nun wohl, man versetze einmal die Kinder in die Lage, daß sie sich alles allein beschaffen müßten, sich selbst
    das Geschirr herstellen, selbst die Milch melken müßten und so weiter. Würden sie dann Mutwillen treiben? Sie
    würden Hungers sterben. Nun wohl, man lasse uns leben mit unseren Leidenschaften und Gedanken, aber ohne eine
    Vorstellung von einem einzigen Gotte und Schöpfer oder ohne eine Vorstellung davon, was das Gute ist, ohne ein
    Verständnis für das sittlich Schlechte!
    Nun schön, baut einmal ohne diese Begriffe etwas auf!
    Wir verfallen nur deswegen darauf, zu zerstören, weil wir in geistigem Sinne satt sind. Die reinen Kinder!
    Woher habe ich diese freudige, mit dem Bauern gemeinsame Erkenntnis, das einzige, was mir die Ruhe der Seele
    verleiht? Wo habe ich sie herbekommen?
    Ich, der ich mit der Vorstellung von Gott erzogen bin und mein ganzes Leben mit den geistigen Gütern erfüllt
    habe, die mir das Christentum gegeben hat, und völlig erfüllt von diesen Gütern bin und durch sie lebe, ich
    zerstöre sie, wie die Kinder, weil ich kein Verständnis für sie habe, das heißt, ich will das zerstören, wodurch
    ich lebe. Aber sobald in meinem Leben ein wichtiger Augenblick kommt, dann gehe ich, wie die Kinder, wenn sie
    frieren und hungrig sind, zu Ihm hin, und habe in noch geringerem Grade als die Kinder, die die Mutter für ihre
    kindlichen Unarten schilt, eine Empfindung dafür, daß meine kindischen Versuche, vor lauter Wohlbefinden Tollheiten
    zu treiben, mir verziehen werden.
    Ja, ja, was ich weiß, weiß ich nicht durch den Verstand, sondern es ist mir gegeben, mir geoffenbart, und

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