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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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ich
    weiß es mit dem Herzen, weiß es durch den Glauben an das wichtigste Stück von dem, was die Kirche bekennt.‹
    »Die Kirche? Die Kirche!« sagte Ljewin mehrmals vor sich hin. Er drehte sich auf eine andere Seite und blickte,
    auf den Arm gestützt, in die Ferne, nach der Herde, die am gegenüberliegenden Ufer zum Flusse hinabstieg.
    ›Aber kann ich alles das glauben, was die Kirche bekennt?‹ dachte er, indem er sich selbst prüfte und alles
    erwog, wodurch seine jetzige Ruhe gestört werden könnte. Er rief sich absichtlich jene Glaubenssätze der Kirche ins
    Gedächtnis zurück, die ihm immer am seltsamsten erschienen waren und am meisten Anstoß gegeben hatten. ›Die
    Schöpfung? Aber wodurch habe ich denn meinerseits das Sein erklärt? Durch das Sein? Durch nichts? ... Der Teufel
    und die Sünde. Aber wodurch erkläre ich denn das Böse? ... Der Erlöser? ...
    Aber ich weiß nichts, nichts weiß ich und kann weiter nichts wissen als eben nur das, was mir wie allen anderen
    Menschen gesagt worden ist.‹
    Und es schien ihm jetzt, daß es unter den Glaubenssätzen der Kirche keinen einzigen gebe, der dem wichtigsten
    Stücke widerstritte: dem Glauben an Gott, dem Glauben an das Gute als einzige Bestimmung des Menschen.
    Unter jeden Glaubenssatz der Kirche konnte man den Glaubenssatz schreiben, daß man der Gerechtigkeit dienen
    müsse und nicht dem eigenen Vorteil. Und keiner jener kirchlichen Glaubenssätze widerstritt diesem Satze, ja es war
    vielmehr ein jeder von ihnen unumgänglich notwendig, damit sich jenes größte, beständig auf der Erde sichtbare
    Wunder vollziehe, das darin besteht, daß es einem jeden, im Verein mit Millionen verschiedenartiger Menschen,
    Weisen und Narren, Kindern und Greisen, mit allen, mit Bauern, mit Lwow, mit Kitty, mit Bettlern und Kaisern,
    möglich ist, in unzweifelhafter Weise ein und dasselbe zu verstehen und das Seelenleben zu führen, um dessentwillen
    allein das Leben lebenswert ist und das allein in Achtung bei uns steht.
    Auf dem Rücken liegend, blickte er jetzt hinauf nach dem hohen, wolkenlosen Himmel. ›Weiß ich etwa nicht, daß
    dies ein unendlicher Raum und nicht ein rundes Gewölbe ist? Aber wie sehr ich auch die Augen zusammenkneifen und
    meine Sehkraft anstrengen mag, ich kann ihn immer nur als rund und begrenzt sehen; und obwohl ich weiß, daß ich
    einen unendlichen Raum vor mir habe, handle ich unzweifelhaft richtig, wenn ich mich begnüge, ein festes, blaues
    Gewölbe zu sehen, richtiger, als wenn ich mich anstrenge, über dieses Gewölbe hinauszublicken.‹
    Ljewin hörte nun auf zu denken und lauschte gleichsam nur auf die geheimnisvollen Stimmen in seinem Innern, die
    in freudiger Erregung miteinander Zwiesprache hielten.
    ›Ist das wirklich Glaube?‹ dachte er und fürchtete sich, an sein Glück zu glauben. »Mein Gott, ich danke dir!«
    murmelte er, indem er das aufsteigende Schluchzen unterdrückte und mit beiden Händen die Tränen wegwischte, mit
    denen sich seine Augen gefüllt hatten.

14
    Ljewin starrte vor sich hin und erblickte die Herde, dann sah er sein Wägelchen mit dem vorgespannten »Raben«
    und den Kutscher, der an die Herde heranfuhr und mit dem Hirten ein paar Worte wechselte; darauf hörte er schon
    ganz nahe das Geräusch der Räder und das Schnauben des wohlgenährten Pferdes; aber er war so in seine Gedanken
    vertieft, daß er überhaupt nicht überlegte, warum der Kutscher zu ihm herangefahren kam.
    Dies fragte er sich erst, als der Kutscher schon dicht bei ihm war und ihn anrief.
    »Die gnädige Frau schickt mich. Ihr Herr Bruder ist angekommen und noch ein Herr.«
    Ljewin setzte sich auf den Wagen und ergriff die Zügel.
    Als wenn er eben aus dem Schlafe erwacht wäre, konnte er lange nicht zur Besinnung kommen. Er betrachtete das
    kräftige Pferd, das zwischen den Schenkeln und am Halse, wo der Zügel rieb, von weißem Schaum bedeckt war; er
    betrachtete den Kutscher Iwan, der neben ihm saß, und es fiel ihm ein, daß er seinen Bruder schon seit einiger Zeit
    erwartet hatte und daß seine Frau sich wahrscheinlich schon über sein langes Ausbleiben beunruhige, und er
    versuchte zu erraten, was das wohl für ein Gast sein möge, der mit seinem Bruder zusammen angekommen sei. Sowohl
    sein Bruder wie auch seine Frau und der unbekannte Gast stellten sich ihm jetzt in anderer Weise dar als vorher. Es
    schien ihm, als würde jetzt sein Verhältnis zu allen Menschen anders sein.
    ›Meinem Bruder werde ich nun nicht mehr

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