Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
und mit einem Ausdrucke kalter Verzweiflung im Gesicht, der ihm überraschend war, schied sie von ihm. Sie war sich bewußt, daß sie dieses Gefühl der Scham, der Freude, der Bangigkeit vor dem Eintritt in ein neues Leben in diesem Augenblicke nicht mit Worten auszudrücken imstande war, und mit unzutreffenden Worten mochte sie von diesem Gefühl nicht reden, es nicht in entstellter Form wiedergeben. Aber auch später, am folgenden und am dritten Tage, fand sie keine Worte, mit denen sie die seltsame Mischung dieser Gefühle hätte ausdrücken können, ja sie fand auch nicht einmal die erforderliche Klarheit des Geistes, um bei sich selbst alles überdenken zu können, was ihre Seele erfüllte.
Sie sagte sich: ›Nein, jetzt kann ich nicht darüber nachdenken; später, wenn ich ruhiger geworden sein werde.‹
Aber diese Beruhigung des Geistes trat bei ihr nie ein; jedesmal, wenn der Gedanke vor ihre Seele trat, was sie getan habe und was nun aus ihr werden solle und was sie nun tun müsse, überkam sie ein Grauen, und sie scheuchte diesen Gedanken von sich.
›Später, später‹, sagte sie, ›wenn ich ruhiger sein werde.‹
Dafür aber trat ihr im Traume, wo sie über ihre Gedanken keine Gewalt hatte, ihre Lage in ihrer ganzen häßlichen Nacktheit vor die Seele. Ein bestimmter Traum stellte sich bei ihr fast in jeder Nacht ein. Es träumte ihr, die beiden Männer wären gleichzeitig ihre Gatten und überschütteten sie beide mit Liebkosungen. Alexei Alexandrowitsch weinte, küßte ihr die Hände und sagte: ›O wie schön ist es jetzt!‹ Und Alexei Wronski war auch da und war ebenfalls ihr Gatte. Und sie wunderte sich darüber, daß ihr dies früher unmöglich erschienen war, und erklärte ihnen lachend, so sei die Sache weit einfacher, und nun könnten sie beide zufrieden und glücklich sein. Aber dieser Traum lastete immer auf ihr wie ein Alp, und sie erwachte vor Angst.
12
I n der ersten Zeit nach seiner Rückkehr aus Moskau sagte sich Ljewin jedesmal, wenn er bei der Erinnerung an die ihm widerfahrene Schmach der Abweisung zusammenzuckte und errötete: ›Ebenso errötete ich und zuckte zusammen und hielt alles für verloren, als ich auf der Universität in der Physik das Prädikat »nicht genügend« bekam und im zweiten Kursus sitzenblieb; und ebenso meinte ich nachher, ich müßte zugrunde gehen, weil ich eine mir anvertraute Angelegenheit meiner Schwester verdorben hatte. Und wie ist's nachher gekommen? Jetzt, nachdem Jahre darüber vergangen sind, erinnere ich mich daran und wundere mich, wie ich mich über diese Dinge so habe grämen können. Ebenso wird es auch mit diesem Kummer sein. Die Zeit wird dahingehen, und ich werde auch dagegen gleichgültig werden.‹
Aber es gingen drei Monate dahin, und er war noch nicht gleichgültig dagegen geworden, und die Erinnerung daran war ihm noch ebenso schmerzlich wie in den ersten Tagen. Er konnte sich nicht beruhigen; denn nachdem er so lange in dem Gedanken an ein Familienleben geschwelgt und mit solcher Bestimmtheit sich für ein solches reif erachtet hatte, war er nun doch nicht verheiratet, ja weiter als je von der Heirat entfernt. Mit Schmerz war er sich bewußt – und alle Leute in seiner Umgebung waren derselben Meinung –, daß es für einen Mann in seinen Jahren nicht gut sei, allein zu sein. Er erinnerte sich, wie er vor seiner Abreise nach Moskau einmal zu seinem Viehknecht Nikolai, einem biederen Menschen, mit dem er gern ab und zu plauderte, gesagt hatte: »Was sagst du dazu, Nikolai? Ich will heiraten!« und wie Nikolai, als handele es sich um eine Sache, bei der gar kein Zweifel möglich sei, ohne Besinnen geantwortet hatte: »Das hätten Sie schon längst tun sollen, Konstantin Dmitrijewitsch!« Aber die Heirat lag für ihn jetzt in weiterer Ferne als je. Der Platz in seinem Herzen war ausgefüllt, und wenn er jetzt in Gedanken an diesen Platz irgendeines der jungen Mädchen aus seinem Bekanntenkreise zu setzen versuchte, so fühlte er, daß dies völlig unmöglich sei. Außerdem erfüllte ihn die Erinnerung an seine Abweisung und an die Rolle, die er dabei gespielt hatte, mit peinigender Scham. Wie oft er sich auch sagen mochte, daß ihn ja keine Schuld dabei treffe, so ließ ihn doch diese Erinnerung, ebenso wie andere derartige beschämende Erinnerungen, zusammenzucken und erröten. Es gab in seiner Vergangenheit, wie in der eines jeden Menschen, schlechte Handlungen, deren er sich bewußt war und um
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