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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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derentwillen sein Gewissen ihn hätte quälen sollen; aber die Erinnerung an diese schlechten Handlungen quälte ihn lange nicht so wie manche nichtigen, aber beschämenden Erinnerungen. Diese Wunden vernarbten nie. Und zu diesen Erinnerungen hatte sich jetzt die an seine Abweisung und an die klägliche Rolle gesellt, die er wohl an jenem Abende vor den Augen anderer gespielt haben mußte. Aber die Zeit und die Arbeit taten schließlich doch ihr Werk. Jene bedrückende Erinnerung wurde in seinem Geiste immer mehr und mehr von den kleinen, aber doch wichtigen Ereignissen des Landlebens in den Hintergrund gedrängt. Mit jeder Woche dachte er seltener an Kitty. Ungeduldig erwartete er die Nachricht, daß sie bereits verheiratet sei oder sich in den nächsten Tagen verheiraten werde; denn er hoffte, daß diese Nachricht wie das Ausziehen eines Zahnes ihn vollständig heilen werde.
     
    Unterdessen war der Frühling gekommen, ein schöner, freundlicher Frühling, der keine zu großen Erwartungen erregt und dafür auch keine Enttäuschungen gebracht hatte, einer jener seltenen Frühlinge, über die sich Pflanzen, Tiere und Menschen zugleich freuen. Dieser schöne Frühling half noch weiter, Ljewin wieder frisch und munter zu machen, und bestärkte ihn in seinem Vorsatze sich von der gesamten Vergangenheit loszusagen, um sein lediges Leben fest und unabhängig zu gestalten. Gar manche von den Plänen, mit denen er auf das Land zurückgekehrt war, hatte er zwar nicht ausführen können, aber doch gerade den wichtigsten: er hatte die Reinheit seines Lebenswandels bewahrt. Er blieb jetzt frei von dem Schamgefühl, das ihn gewöhnlich nach einem Fehltritte gequält hatte, und konnte den Menschen unbefangen in die Augen sehen. Es war noch im Februar gewesen, als er von Marja Nikolajewna einen Brief erhalten hatte, daß der Gesundheitszustand seines Bruders Nikolai sich verschlimmert habe, er wolle aber trotzdem von einer Kur nichts wissen. Infolge dieses Briefes war Ljewin zu seinem Bruder nach Moskau gefahren und hatte diesen durch Überredung dahin gebracht, einen Arzt zu befragen und nach einem Badeort ins Ausland zu fahren. Es war ihm so gut gelungen, den Bruder zu überreden und ihm Geld zur Reise zu borgen, ohne ihn dadurch in Erregung zu versetzen, daß er in dieser Hinsicht mit sich recht wohl zufrieden war. Außer der Wirtschaft, die im Frühjahr besondere Achtsamkeit erforderte, und außer seiner üblichen Lektüre hatte Ljewin in diesem Winter noch begonnen, eine landwirtschaftliche Abhandlung zu schreiben, deren Hauptgedanke folgender war: Man müsse in der Landwirtschaft den Charakter des Arbeiters als eine schlechthin gegebene Größe auffassen, genauso wie das Klima und die Bodenbeschaffenheit; und folglich müßten alle Lehrsätze der landwirtschaftlichen Wissenschaft nicht aus zwei gegebenen Größen, dem Klima und der Bodenbeschaffenheit, sondern aus dreien, dem Klima, der Bodenbeschaffenheit und dem bekannten unveränderlichen Charakter des Arbeiters abgeleitet werden. So hatte denn, obgleich er so allein dastand oder auch gerade deswegen, sein Leben einen vollen Inhalt; nur empfand er bisweilen den unbefriedigten Wunsch, die in seinem Kopfe gärenden Gedanken noch sonst jemandem außer Agafja Michailowna mitteilen zu können; denn es kam nicht selten vor, daß er sich auch mit ihr über Physik, über Theorie der Landwirtschaft und namentlich über Philosophie unterhielt; die Philosophie war Agafja Michailownas Lieblingsfach.
     
    Der Frühling hatte lange nicht recht zum Durchbruch kommen wollen. Die letzten Fastenwochen hatten klares Frostwetter gebracht. Bei Tage taute es zwar in der Sonne, aber in der Nacht sank das Thermometer auf sieben Grad unter Null; die Eisrinde auf dem Schnee war so stark, daß die Frachtfuhren ohne Weg darüber hinfuhren. Zu Ostern lag der Schnee noch überall. Da begann plötzlich am zweiten Feiertage ein warmer Wind zu wehen, dunkle Wolken wälzten sich heran, und drei Tage und drei Nächte lang strömte ein gewaltiger warmer Regen hernieder. Am Donnerstag legte sich der Wind, und es breitete sich ein dichter, grauer Nebel aus, als ob er die Geheimnisse der in der Natur sich vollziehenden Veränderungen verbergen wollte. In dem Nebel fingen die Gewässer an zu strömen, die Eisdecke barst, und die Schollen setzten sich in Bewegung; schneller strömten die trüben, schäumenden Flüsse dahin, und gerade am Sonntag nach Ostern gegen Abend zerriß der Nebel, das dunkle Gewölk

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