Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
wurde aus Rahmen mit Strohmatten erbaut. Lilly begann zu baden, und Darja Alexandrownas Hoffnung auf ein wenn auch nicht ruhiges, so doch bequemes Leben auf dem Lande ging nun wenigstens teilweise in Erfüllung. Ruhig, wirklich ruhig konnte Darja Alexandrowna mit ihren sechs Kindern überhaupt nicht sein. Das eine wurde krank; ein anderes konnte krank werden; einem dritten fehlte irgend etwas an der Kleidung; ein viertes zeigte Anzeichen eines schlechten Charakters, und so weiter. Zeiten der Ruhe kamen nur äußerst selten vor und waren immer nur von ganz kurzer Dauer. Aber diese Geschäftigkeit und Unruhe bildete für Darja Alexandrowna das einzige mögliche Glück. Wäre ihr Geist nicht in dieser Weise beschäftigt gewesen, so hätte sie nichts weiter gehabt als ihre Gedanken an den Gatten, der sie nicht liebte. Und dazu kam noch dies: wie schwer auch die Befürchtung möglicher Krankheiten, die Krankheiten selbst und der Kummer bei der Wahrnehmung von Anzeichen übler Neigungen der Kinder auf der Mutter lasteten, so vergalten ihr doch schon jetzt die Kinder selbst alle ihre Bekümmernisse durch kleine Freuden. Diese Freuden waren so klein, daß sie leicht unbeachtet blieben wie Goldkörner im Sande, und in schlimmen Augenblicken sah die Mutter nur die Bekümmernisse, den Sand; aber es gab auch gute Augenblicke, in denen sie nur die Freuden sah, nur das Gold.
Jetzt, in der Einsamkeit des Lebens auf dem Lande wurde sie sich dieser Freuden immer öfter und öfter bewußt. Oft, wenn sie ihre Kinder ansah, machte sie alle möglichen Anstrengungen, um sich selbst zu der Überzeugung zu bringen, daß sie sich irre und nach Mutterart von ihren Kindern zu sehr eingenommen sei; aber trotzdem konnte sie nicht umhin, sich zu sagen, daß ihre Kinder doch ganz prächtige Kinder seien, alle sechs, jedes auf andere Art, aber sämtlich Kinder, wie man sie selten findet – und sie war glücklich über sie und stolz auf sie.
8
E nde Mai, als alles schon mehr oder weniger in Ordnung gekommen war, erhielt Darja Alexandrowna von ihrem Manne eine Antwort auf ihre Klagen über die auf dem Gute vorgefundenen Übelstände. Er bat sie in dem Briefe um Verzeihung, daß er nicht alles bedacht habe, und versprach, sobald sich eine Möglichkeit dazu bieten werde, selbst zu kommen. Aber eine solche Möglichkeit bot sich nicht, und so war sie bis Anfang Juni allein auf dem Gute.
In den Petri-Fasten, an einem Sonntage, fuhr Darja Alexandrowna zur Messe, um mit allen ihren Kindern das Abendmahl zu nehmen. Sie hatte früher in vertraulichen philosophischen Gesprächen mit der Mutter, der zweiten Schwester und Freundinnen diese sehr oft durch den freigeistigen Standpunkt, den sie der Religion gegenüber einnahm, in Erstaunen versetzt. Sie hatte eine eigene, sonderbare Religion für sich und glaubte namentlich ganz fest an eine Seelenwanderung, während sie sich um die Dogmen der Kirche wenig kümmerte. Aber in ihrer eigenen Familie erfüllte sie (und zwar nicht etwa nur, um damit ein Beispiel zu geben, sondern von ganzem Herzen) streng alle Forderungen der Kirche, und der Umstand, daß ihre Kinder ungefähr seit einem Jahr nicht zum Abendmahl gegangen waren, beunruhigte sie sehr, und mit Matrona Filimonownas vollster Zustimmung und Billigung beschloß sie, dies jetzt im Sommer mit den Kindern zu tun.
Darja Alexandrowna überlegte mehrere Tage vorher, was sie allen Kindern anziehen solle. Es wurden Kleider angefertigt, umgeändert und gewaschen, Säume und Stufen ausgelassen, Knöpfe angenäht und Bänder zurechtgemacht. Über Tanjas Kleid, das die Engländerin zu schneidern übernommen hatte, mußte Darja Alexandrowna sich furchtbar ärgern. Die Engländerin hatte beim Umändern die Abnäher an falscher Stelle angebracht, die Armlöcher zu weit ausgeschnitten und das Kleid beinahe vollständig verdorben. Das Kleid saß dem Kinde so schlecht in den Achseln, daß es einem weh tat, wenn man es nur ansah. Aber Matrona Filimonowna kam auf den guten Gedanken, es sollten Keile eingesetzt und dann ein kleiner Überwurf angefertigt werden. Die Sache wurde auf diese Weise in Ordnung gebracht; aber mit der Engländerin hätte es beinahe einen bösen Zank gegeben. Jedoch am Sonntagmorgen war alles fertig und bereit, und um neun Uhr (Darja Alexandrowna hatte den Geistlichen gebeten, mit der Messe bis zu diesem Zeitpunkte zu warten) standen die Kinder, vor Freude strahlend, in ihrem Staate vor der Haustür beim Wagen und warteten auf ihre
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