Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
versetzte ihn unwillkürlich in eine heitere Stimmung.
»Na, an Appetit fehlt es dir ja nicht!« bemerkte er, während er sein über den Teller gebeugtes braunrot gebranntes Gesicht und den gleichfarbigen Hals betrachtete.
»Es schmeckt mir vorzüglich! Du glaubst gar nicht, welch ein nützliches Gegenmittel gegen alle möglichen Torheiten eine derartige Lebensweise ist. Ich möchte die ärztliche Wissenschaft mit einem neuen terminus technicus bereichern: Arbeitskur.«
»Na, du hast eine solche Kur ja doch wohl nicht nötig.«
»Nein, aber bei allerlei Nervenleiden würde sie gute Dienste tun.«
»Ja, das müßte man praktisch erproben. Ich wollte eigentlich auch zum Mähen nach der Wiese kommen, um dir zuzusehen; aber die Hitze war so unerträglich, daß ich nicht weiter als bis zum Walde gekommen bin. Da habe ich ein Weilchen gesessen und bin dann durch den Wald nach dem Dorfe gegangen; dort traf ich deine alte Amme und sondierte bei ihr ein bißchen über die Ansichten, die die Bauern über dich haben. Soviel ich habe merken können, findet dein Treiben nicht den Beifall der Bauern. Sie sagte: ›Das ist keine Arbeit für einen Herrn.‹ Überhaupt scheint mir, daß in der Auffassung der Bauern die Merkmale der Tätigkeit, die nach ihrer Meinung den Herren zukommt, sehr genau festgestellt sind. Und sie wollen nichts davon wissen, daß die Herren die Grenzen überschreiten, die sie ihnen mit ihrem Begriffsvermögen gesetzt haben.«
»Das mag ja sein; aber ich habe von dieser Arbeit einen solchen Genuß, wie ich ihn in meinem ganzen Leben noch nicht gekostet habe. Und es ist ja doch nichts Böses dabei, nicht wahr?« versetzte Ljewin. »Wenn es ihnen nicht gefällt, kann ich ihnen nicht helfen. Übrigens glaube ich, daß es mit dieser Unzufriedenheit nicht gar so schlimm ist. Wie?«
»Du bist«, fuhr Sergei Iwanowitsch fort, »wie ich sehe, überhaupt mit diesem Tage zufrieden.«
»Sehr zufrieden. Wir haben die ganze Wiese abgemäht. Und mit einem ganz prächtigen alten Manne habe ich mich da angefreundet! Du kannst dir gar keine Vorstellung davon machen, wie nett und interessant das war.«
»Na also, du bist mit deinem heutigen Tagewerk zufrieden. Und ich desgleichen mit dem meinigen. Erstens habe ich zwei Schachaufgaben gelöst, und eine davon war recht hübsch: es wird zuerst ein Bauer gezogen. Ich werde es dir noch zeigen. Und dann habe ich über unser gestriges Gespräch nachgedacht.«
»Worüber? Über unser gestriges Gespräch?« fragte Ljewin. Er kniff nach beendeter Mahlzeit glückselig die Augen zusammen und stöhnte wohlig, vermochte sich aber schlechterdings nicht zu besinnen, was das gestern für ein Gespräch gewesen sein sollte.
»Ich finde, daß du teilweise recht hast. Unsere Meinungsverschiedenheit besteht darin, daß du das persönliche Interesse als die treibende Kraft hinstellst, ich dagegen der Ansicht bin, daß jeder Mensch, der auf einer gewissen Bildungsstufe steht, Interesse für das Gemeinwohl haben muß. Vielleicht hast du darin recht, daß eine durch ein materielles Interesse hervorgerufene Tätigkeit wünschenswerter wäre. Im allgemeinen aber bist du deinem ganzen Wesen nach zu sehr prime-sautier 1 , wie die Franzosen sagen: du willst eine leidenschaftliche, kraftvolle Tätigkeit oder gar keine.«
Ljewin hörte seinem Bruder zu, verstand aber gar nichts und wollte auch nichts verstehen. Er fürchtete nur, der Bruder könnte eine Frage an ihn richten, bei der sich dann herausstellen würde, daß er gar nicht aufgepaßt habe.
»Ja, so ist das, mein lieber Konstantin«, sagte Sergei Iwanowitsch und klopfte ihm auf die Schulter.
»Ja, gewiß, selbstverständlich. Ich bin ja nicht auf meine Ansicht versessen«, antwortete Ljewin mit dem Lächeln eines schuldbewußten Kindes. ›Worüber hatten wir eigentlich miteinander gestritten?‹ dachte er. ›Natürlich, ich habe recht, und er hat auch recht, und alles ist in schönster Ordnung.‹ Und laut fuhr er fort: »Ich muß nur noch ins Kontor gehen und allerlei anordnen.« Er stand auf, reckte sich und lächelte.
Sergei Iwanowitsch lächelte gleichfalls.
»Wenn du noch ein bißchen spazierengehen willst, so können wir ja zusammen gehn«, sagte er; denn das Zusammensein mit seinem Bruder, von dem ordentlich ein Hauch von Frische und Tatkraft ausging, machte ihm wirklich Freude. »Komm; wir können ja auch noch zum Kontor gehen, wenn du dahin mußt.«
»Ach,
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