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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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wurde in ihrem Herzen einen Augenblick lang ein milderes Gefühl für ihn rege, sie versetzte sich in seine Lage und bemitleidete ihn. Aber was hätte sie sagen oder tun können? Sie ließ den Kopf sinken und schwieg. Auch er schwieg einige Zeit und hob dann mit minder kreischender Stimme und in nicht ganz so kaltem Tone von neuem an, wobei er willkürlich herausgegriffene Worte betonte, die gar keine besondere Wichtigkeit hatten.
     
    »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen ...«, fing er an.
     
    Sie blickte ihn an.
     
    ›Nein, das ist mir doch nur so vorgekommen‹, dachte sie mit Bezug auf den Ausdruck, den sie auf seinem Gesichte wahrzunehmen geglaubt hatte, als er bei dem Worte »dulchgemacht« ins Stottern geriet. ›Nein, kann denn ein Mensch mit diesen trüben Augen und mit dieser selbstzufriedenen Ruhe überhaupt irgend etwas empfinden?‹
     
    »Ich kann nichts daran ändern«, flüsterte sie.
     
    »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich morgen nach Moskau reise und nicht wieder in dieses Haus zurückkehren werde und daß Sie von meinem Entschlusse durch den Rechtsanwalt Nachricht erhalten werden, den ich mit der Einreichung der Klage auf Scheidung beauftragen werde. Mein Sohn aber wird zu meiner Schwester übersiedeln«, erklärte Alexei Alexandrowitsch; er erinnerte sich nur mit Anstrengung an das, was er über seinen Sohn hatte sagen wollen.
     
    »Sie wollen Sergei nur haben, um mir wehe zu tun«, antwortete sie und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Sie lieben ihn nicht ... Lassen Sie mir Sergei!«
     
    »Ja, sogar die Liebe zu meinem Sohne ist mir abhanden gekommen, weil sein Anblick mich immer an meinen Abscheu gegen Sie erinnert. Aber ich nehme ihn doch für mich. Leben Sie wohl!«
     
    Er wollte hinausgehen; aber jetzt hielt sie ihn zurück.
     
    »Alexei Alexandrowitsch, lassen Sie mir Sergei!« flüsterte sie noch einmal. »Weiter kann ich nichts sagen. Lassen Sie mir Sergei bis zu meiner ... Ich werde bald einem Kinde das Leben geben. Lassen Sie ihn mir!«
     
    Alexei Alexandrowitschs Gesicht bedeckte sich mit dunkler Glut; er entriß ihr seine Hand und verließ schweigend das Zimmer.
     
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    1 (frz.) die Feststellung einer Tatsache.
     

5
     
    D as Wartezimmer des berühmten Petersburger Rechtsanwaltes war gefüllt, als Alexei Alexandrowitsch es betrat. Drei Klientinnen, eine alte Dame, eine junge Dame und eine Kaufmannsfrau mittleren Alters sowie drei Klienten, ein deutscher Bankier mit einem Siegelring am Finger, ein bärtiger Kaufmann und ein Beamter mit grimmiger Miene, in Uniform, mit einem Orden am Halse, warteten offenbar schon lange. Zwei Schreiber des Rechtsanwaltes saßen, mit Schreiben beschäftigt, an Tischen; man hörte das Geräusch ihrer Federn auf dem Papier. Die Schreibgeräte waren außerordentlich schön; Alexei Alexandrowitsch, dessen besondere Liebhaberei dies war, konnte nicht umhin, es zu bemerken. Einer der Schreiber wandte sich, ohne aufzustehen, mit zusammengekniffenen Augen ärgerlich zu Alexei Alexandrowitsch.
     
    »Was ist Ihnen gefällig?«
     
    »Ich habe geschäftlich mit dem Herrn Rechtsanwalt zu sprechen.«
     
    »Der Herr Rechtsanwalt ist sehr in Anspruch genommen«, antwortete der Schreiber in strengem Tone, indem er mit der Feder auf die Wartenden wies, und schrieb dann weiter.
     
    »Hat er nicht vielleicht dazwischen einen Augen blick für mich Zeit?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
     
    »Er hat keinen freien Augenblick; er ist immer beschäftigt. Bitte zu warten!«
     
    »Möchten Sie dann nicht so freundlich sein, ihm meine Karte zu überreichen«, sagte Alexei Alexandrowitsch, da er die Notwendigkeit einsah, sein Inkognito aufzugeben.
     
    Der Schreiber nahm die Karte hin, machte ein Gesicht, als ob ihn deren Inhalt sehr wenig befriedigte, und ging zu dem Rechtsanwalt hinein.
     
    Alexei Alexandrowitsch billigte grundsätzlich das öffentliche Gerichtsverfahren; nur gewisse Einzelheiten in seiner praktischen Anwendung bei uns in Rußland hatten, mit Rücksicht auf höhere, ihm wohlbekannte dienstliche Verhältnisse, nicht seinen vollen Beifall, und er mißbilligte diese Einzelheiten, soweit er imstande war, etwas, was die allerhöchste Bestätigung gefunden hatte, zu mißbilligen. Sein ganzes Leben lang war er auf dem Verwaltungsgebiete tätig gewesen; so oft es daher vorkam, daß er etwas mißbilligte, wurde sein Mißvergnügen gemildert durch die Erwägung, daß Fehler bei allen Dingen unvermeidlich seien, immer aber die Möglichkeit

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