Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
weiteres in die alles verneinende Literatur hinein, machte sich mit großer Leichtigkeit den Gesamtextrakt der alles verneinenden Wissenschaft zu eigen und war nun fertig. Und damit nicht genug: vor zwanzig Jahren hätte er in dieser Literatur die Anzeichen eines Kampfes mit den Autoritäten, mit den jahrhundertealten Anschauungen gefunden; er hätte aus diesem Kampfe ersehen, daß vorher etwas anderes vorhanden war, jetzt aber geriet er geradeswegs in eine Literatur hinein, in der die alten Anschauungen nicht einmal der Bekämpfung gewürdigt werden, sondern einfach erklärt wird: keine Voraussetzungen gelten; Evolution, Auslese, Kampf ums Dasein, damit fertig! Ich habe in meiner Abhandlung ...«
»Wissen Sie was?« sagte Anna, die schon lange verstohlen mit Wronski Blicke gewechselt hatte und wußte, daß er sich für den Bildungsgang dieses Künstlers gar nicht interessierte, sondern daß ihn nur der Gedanke beschäftigte, ihm zu helfen und ein Bildnis bei ihm zu bestellen. »Wissen Sie was?« unterbrach sie entschlossen den Schriftsteller, der in seinem Eifer kein Ende finden konnte. »Wir wollen ihm einen Besuch machen!«
Golenischtschew merkte, daß er zu eifrig geworden war, brach ab und erklärte sich gern einverstanden. Da der Künstler in einem entfernten Stadtteil wohnte, so entschieden sie sich dafür, einen Wagen zu nehmen.
Eine Stunde darauf fuhren sie, Anna neben Golenischtschew, Wronski auf dem Vordersitze des Wagens, bei einem neuen, unschönen Hause in jenem entlegenen Stadtteil vor. Von der Frau des Hauswartes, die herauskam, erfuhren sie, Michailow pflege den Besuch seines Ateliers zu gestatten, befinde sich aber augenblicklich gerade in seiner nur ein paar Schritte davon gelegenen Wohnung; sie schickten sie daher mit ihren Besuchskarten zu ihm und ließen um die Erlaubnis bitten, seine Bilder betrachten zu dürfen.
10
D er Maler Michailow war wie immer bei der Arbeit, als ihm die Karten des Grafen Wronski und Golenischtschews überbracht wurden. Den Vormittag über hatte er in seinem Atelier an seinem großen Gemälde gearbeitet. Nach Hause zurückgekehrt, hatte er sich über seine Frau geärgert, weil sie nicht verstanden hatte, die Hauswirtin, die durchaus Geld hatte haben wollen, richtig zu behandeln.
»Zwanzigmal habe ich dir schon gesagt: laß dich auf keine Auseinandersetzungen ein. Du bist so schon dumm genug; aber wenn du nun gar anfängst, auf italienisch zu debattieren, so nimmst du dich noch dreimal dümmer aus«, sagte er nach einem längeren Gezänk zu ihr.
»Dann sorge du dafür, daß in unserer Kasse nicht immer Ebbe ist; ich bin nicht schuld. Wenn ich Geld hätte ...«
»Um Gottes willen, laß mich in Ruhe!« schrie Michailow; es war seiner Stimme anzuhören, daß ihm die Tränen ganz nahe waren. Sich die Ohren zuhaltend, lief er in sein Arbeitszimmer, das vom Wohnzimmer nur durch eine dünne Zwischenwand getrennt war, und machte die Tür hinter sich zu. »So ein einfältiges Frauenzimmer!« murmelte er vor sich hin, setzte sich an den Tisch, schlug eine Mappe auf und begann sofort mit ganz besonderem Eifer an einer angefangenen Zeichnung weiterzuarbeiten.
Niemals arbeitete er mit größerem Eifer und Erfolg, als wenn es ihm in materieller Hinsicht schlecht ging und namentlich, wenn er sich mit seiner Frau gezankt hatte: ›Ach, man möchte am liebsten davonlaufen!‹ dachte er, während er weiterarbeitete. Er zeichnete eine Skizze für die Gestalt eines Mannes, der einen Wutanfall hat. Eine solche Skizze hatte er schon früher hergestellt gehabt, war aber mit ihr nicht zufrieden gewesen. ›Nein, die erste war doch besser ... Wo mag sie nur geblieben sein?‹ Er ging wieder in das Zimmer, in dem seine Frau war, und fragte, ohne sie anzusehen, mit finsterem Gesicht sein ältestes Töchterchen, wo das Blatt Papier sei, das er ihnen gegeben habe. Das Blatt mit der verworfenen Skizze fand sich wirklich noch vor, war aber beschmutzt und mit Stearin betröpfelt. Trotzdem nahm er die Skizze mit in sein Arbeitszimmer, legte sie vor sich auf den Tisch und betrachtete sie, indem er sich etwas davon entfernte und die Augen zusammenkniff. Auf einmal lächelte er und schwenkte vergnügt die Arme.
›So muß es sein, so ist es richtig!‹ sprach er vor sich hin, ergriff sofort einen Bleistift und begann hastig zu zeichnen. Der Stearinfleck hatte dem Mann eine neue Pose gegeben.
Er zeichnete diese neue Pose, und auf einmal fiel ihm das
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