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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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ihren Platz hatte wechseln lassen, alle mit so vieler Mühe erzielten Schattierungen der Farben und der Töne: alles dies zusammen erschien ihm jetzt, wo er es mit den Augen seiner Besucher sah, als eine schon tausendmal wiederholte Alltäglichkeit. Die Figur, die ihm die liebste und teuerste war, die Christusfigur, der Mittelpunkt des Gemäldes, über die er, als sie sich ihm einst offenbart hatte, in höchste Begeisterung geraten war, sie hatte für ihn allen Reiz verloren, nun er das Gemälde mit den Augen Fremder beschaute. Er sah eine gut gemalte (eigentlich nicht einmal gut gemalte, da er jetzt deutlich eine ganze Menge von Mängeln wahrnahm) Wiederholung jener zahllosen Christusse von Tizian, Raffael und Rubens, eine Wiederholung der nämlichen Kriegsknechte und des nämlichen Pilatus. All das war so alltäglich, armselig und veraltet, und es war sogar schlecht gemalt: bunt und schwächlich. ›Diese drei Besucher‹, sagte er sich, ›werden ganz recht haben, wenn sie in Gegenwart des Künstlers ein paar heuchlerisch höfliche Phrasen hinreden und, sobald sie unter sich allein sind, ihn bedauern und sich über ihn lustig machen.‹
     
    Dieses Schweigen, obwohl es nicht länger als eine Minute gedauert hatte, wurde ihm gar zu drückend. Um es zu unterbrechen und zu zeigen, daß er nicht aufgeregt sei, tat er sich Gewalt an und wandte sich zu Golenischtschew:
     
    »Ich habe wohl schon einmal das Vergnügen gehabt, mit Ihnen zusammenzutreffen«, sagte er, blickte aber dabei unruhig bald zu Anna, bald zu Wronski hin, um sich keine Veränderung ihres Gesichtsausdruckes entgehen zu lassen.
     
    »Gewiß! Wir haben uns bei Rossi getroffen; Sie besinnen sich: bei der Abendgesellschaft, wo dieses italienische Fräulein, die neue Rachel, vortrug«, antwortete Golenischtschew in munterem Ton; er wandte seine Augen ohne das geringste Bedauern von dem Gemälde weg und blickte den Maler an.
     
    Als er jedoch bemerkte, daß Michailow ein Urteil über sein Bild erwartete, sagte er:
     
    »Ihr Bild ist sehr fortgeschritten, seit ich es zum letzten Male gesehen habe. Und wie damals, so hat auch jetzt die Figur des Pilatus für mich etwas außerordentlich Überraschendes. So gewinnt man Verständnis für diesen Menschen, einen ganz braven, wackeren Gesellen, aber eingefleischten Beamten, der nicht weiß, was er tut. Aber mir scheint ...«
     
    Michailows ganzes bewegliches Gesicht strahlte plötzlich auf; seine Augen leuchteten. Er wollte etwas sagen; aber er konnte vor Aufregung nicht reden und stellte sich, als ob er husten müsse. Wie gering er auch Golenischtschews Kunstverständnis einschätzte, wie unbedeutend auch dessen richtige Bemerkung über den wohlgetroffenen Beamtencharakter im Gesicht des Pilatus an sich war, wie verletzend es ihm auch sein konnte, daß jener zuerst eine so geringfügige Bemerkung aussprach und von wichtigeren Dingen nichts sagte: trotzdem war Michailow von dieser Bemerkung ganz entzückt. Er selbst dachte über die Figur des Pilatus genau dasselbe, was Golenischtschew soeben gesagt hatte. Und der Umstand, daß diese Beobachtung nur eine einzige unter vielen anderen Beobachtungen war, die, wie Michailow fest überzeugt war, alle ebenso zutreffend sein würden, dieser Umstand verringerte in seinen Augen den Wert der Bemerkung Golenischtschews in keiner Weise. Er faßte um dieser Bemerkung willen eine Neigung für Golenischtschew und ging aus seinem Zustande der Niedergeschlagenheit unvermittelt in den der Glückseligkeit über. Sogleich gewann sein ganzes Bild in seinen Augen Leben und ließ die ganze, unsagbar kunstvolle Organisation erkennen, wie sie allem Lebendigen eigen ist. Michailow setzte wieder dazu an, zu sagen, daß er den Pilatus ganz ebenso aufgefaßt habe; aber seine zitternden Lippen versagten ihm den Dienst, und er vermochte es nicht auszusprechen. Wronski und Anna sagten ebenfalls etwas in jenem gedämpften Ton, in dem man gewöhnlich vor ausgestellten Bildern zu sprechen pflegt, teils um den Künstler nicht zu verletzen, teils um nicht laut eine Dummheit zu sagen, die einem ja bei Gesprächen über Kunst so leicht über die Lippen kommen kann. Michailow hatte die Empfindung, daß sein Bild auch auf sie Eindruck gemacht habe. Er trat zu ihnen.
     
    »Wie wundervoll der Ausdruck des Christuskopfes ist!« sagte Anna. Von allem, was sie sah, gefiel ihr dieser Ausdruck am meisten; sie fühlte, daß dies der eigentliche Mittelpunkt des Gemäldes sei und dieses Lob daher dem

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