Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
stolz sein könnte. Da ist kein Anlaß mehr, auf mich stolz zu sein, wohl aber sich meiner zu schämen. Er hat mir alles genommen, was er mir nehmen konnte, und jetzt hat er mich nicht mehr nötig. Er empfindet mich als Last und ist nur noch darauf bedacht, in seinem Verhältnis zu mir nicht zu einem Ehrlosen zu werden. Gestern sagte er unversehens ein Wort zuviel: er wünschte die Scheidung und die Ehe, um seine Schiffe hinter sich zu verbrennen. Er liebt mich; aber wie? The zest is gone. 1 Der da will alle Leute in Staunen versetzen und ist mit sich selbst sehr zufrieden‹, dachte sie beim Anblick eines rotbackigen Kommis, der auf einem Mietgaul ritt. ›Ja, ich sage ihm nicht mehr sonderlich zu. Wenn ich von ihm weggehe, wird er im Grunde seines Herzens darüber froh sein.‹
Und das war keine bloße Vermutung für sie, sondern sie erkannte das mit aller Klarheit in der scharfen Beleuchtung, in der sich ihr jetzt der Sinn des Lebens und der menschlichen Wechselbeziehungen erschloß.
›Meine Liebe wird immer leidenschaftlicher und selbstsüchtiger, und die seinige schwindet immer mehr dahin, und das ist der Grund, weshalb wir auseinandergeraten‹, fuhr sie in ihren Überlegungen fort. ›Und da ist nicht zu helfen. Mir ist er mein ein und alles, und ich verlange auch von ihm völlige Hingabe an mich. Sein Streben dagegen ist darauf gerichtet, sich immer mehr von mir loszulösen. Vor unserer Verbindung kamen wir einander entgegen; aber seitdem gehen wir unaufhaltsam nach entgegengesetzten Seiten auseinander. Und eine Änderung läßt sich darin nicht herbeiführen. Er sagt mir, ich sei von einer sinnlosen Eifersucht, und dasselbe habe auch ich mir gesagt. Aber es ist nicht wahr: ich bin nicht eifersüchtig, sondern unzufrieden. Aber ...‹ Sie öffnete den Mund und setzte sich im Wagen auf einen anderen Platz infolge der Aufregung, in die ein plötzlich in ihr auftauchender Gedanke sie versetzte. ›Ja, wenn ich imstande wäre, etwas anderes zu sein als die Geliebte, die nur nach seinen Liebkosungen leidenschaftlich verlangt! Aber ich kann und will nichts anderes sein. Und durch dieses Verlangen nach Liebe errege ich bei ihm ein Gefühl der Abneigung, und dadurch wächst bei mir ein Ingrimm heran, und das ist gar nicht anders möglich. Ich weiß ja, daß er mich nicht hintergehen würde, daß er keine Absichten auf die Prinzessin Sorokina hat, daß er nicht in Kitty verliebt ist, daß er mir nicht untreu werden wird. Das weiß ich alles; aber dadurch wird mir nicht leichter ums Herz. Ist er, ohne mich zu lieben, zwar aus Pflichtgefühl gut und zärtlich gegen mich, fehlt aber dabei eben das, wonach ich verlange, so ist das schlimmer, tausendmal schlimmer als wechselseitiger Groll! Das ist die Hölle! Und geradeso ist es bei uns. Er liebt mich schon längst nicht mehr. Wo aber die Liebe aufhört, da beginnt der Haß ... Diese Straßen kenne ich ja gar nicht. Bergauf, bergab, und überall Häuser und Häuser ... Und in den Häusern überall Menschen und Menschen ... Wie viele Menschen gibt es da, endlos viele, und alle hassen sie einander. Nun, ich könnte mir ja einmal überlegen, was ich mir wohl wünschen möchte, um glücklich zu sein. Nun, was denn also? Ich erlange die Scheidung; Alexei Alexandrowitsch überläßt mir Sergei, und ich heirate Wronski.‹ Bei der Erinnerung an Alexei Alexandrowitsch glaubte sie ihn auf einmal mit außerordentlicher Deutlichkeit wie lebend vor sich zu sehen, mit seinen sanften, matten, halb erloschenen Augen, mit den blauen Adern auf den weißen Händen, mit dem eigentümlichen Tonfall seiner Stimme und dem Knacken seiner Finger; und als sie dabei an das Gefühl dachte, das zwischen ihnen bestanden hatte und das gleichfalls Liebe genannt worden war, da zuckte sie vor Ekel zusammen. ›Also ich erlange die Scheidung und werde Wronskis Frau. Ob mich Kitty dann wohl mit anderen Augen ansehen wird als heute? Nein. Und wird Sergei dann aufhören, sich danach zu erkundigen und darüber nachzudenken, welche Bewandtnis es mit meinen beiden Männern hat? Und welches neue Gefühl könnte ich mir dann zwischen mir und Wronski aussinnen? Ist denn irgendein, ich will gar nicht sagen Glück, sondern auch nur Freisein von Qual möglich? Nein und abermals nein!‹ gab sie sich selbst ohne das leiseste Schwanken zur Antwort. ›Es ist unmöglich! Wir werden lebenslänglich nach verschiedenen Seiten gehen, und ich werde ihn unglücklich machen und er mich, und weder er wird sich ändern
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