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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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lassen noch ich mich. Alle möglichen Versuche sind bereits angestellt; die Schraube ist überdreht ... Da sitzt eine Bettlerin mit einem kleinen Kinde; sie meint, sie werde Mitleid erregen. Aber sind wir denn nicht allesamt in diese Welt hineingeworfen, nur um einander zu hassen und dadurch uns und anderen Qual zu bereiten? Da gehen Gymnasiasten; sie lachen. Und mein Sergei?‹ dachte sie dabei. ›Den habe ich ebenfalls zu lieben geglaubt und war ordentlich gerührt über meine eigene Zärtlichkeit. Und doch habe ich auch ohne ihn gelebt und habe ihn gegen eine andere Liebe hingegeben und diesen Tausch nicht bereut, solange mich jene andere Liebe befriedigte.‹ Und mit Abscheu erinnerte sie sich an das, was sie jene andere Liebe nannte. Und die Klarheit, mit der sie jetzt ihr eigenes Leben und das Leben aller Menschen sah und durchschaute, bereitete ihr Freude. ›So geht es mit mir, und mit Peter, und mit dem Kutscher Fjodor, und mit diesem Kaufmann da, und mit all den Menschen, die dort an der Wolga wohnen, auf der zu fahren diese Plakate der Dampfschiffahrtsgesellschaften einladen, und so geht es überall, überall‹, dachte sie, als sie bei dem niedrigen Bahnhofsgebäude der Nischegoroder Bahn vorfuhr und die Gepäckträger aus dem Bahnhof heraus an den Wagen gelaufen kamen.
     
    »Befehlen Sie eine Fahrkarte nach Obiralowka?« fragte Peter.
     
    Sie hatte ganz vergessen, wohin sie reisen wollte und zu welchem Zweck, und vermochte nur mit Anstrengung die Frage zu verstehen.
     
    »Ja«, antwortete sie und reichte ihm ihr Geldtäschchen; dann nahm sie ihre kleine rote Reisetasche und stieg aus dem Wagen.
     
    Während sie sich durch den Menschenschwarm hindurch nach dem Wartesaal erster Klasse begab, erinnerte sie sich nach und nach wieder an alle Einzelheiten ihrer Lage und an die Pläne, zwischen denen sie geschwankt hatte. Und wiederum wechselten in ihrem gequälten, entsetzlich zuckenden Herzen Hoffnung und Verzweiflung, und die alten, schmerzhaften Wunden wurden immer von neuem gereizt. Während sie in Erwartung des Zuges auf dem sternförmigen Sofa saß und die Ein- und Ausgehenden voll Widerwillen betrachtete (sie erschienen ihr alle abstoßend), dachte sie bald daran, wie sie auf dem Bahnhof ankommen, wie sie ihm ein paar Zeilen schreiben und was sie ihm schreiben werde, bald daran, wie er sich jetzt bei seiner Mutter über seine Lage beklage (er, der doch gar nicht wußte, was leiden heißt), und wie sie dann ins Zimmer treten und was sie ihm sagen werde. Bald wieder dachte sie daran, wie glücklich ihr Leben sich noch gestalten könne, und wie qualvoll sie ihn liebe und hasse, und wie furchtbar ihr Herz poche.
     
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    1 (engl.) Der Eifer ist erloschen.
     

31
     
    D as erste Glockenzeichen ertönte. Einige junge Männer gingen vorüber, häßliche, freche Gesellen; sie hatten es eilig, achteten dabei aber doch darauf, welchen Eindruck sie wohl machten. Auch Peter, mit stumpfem, tierischem Gesichtsausdruck, kam in seiner Livree und seinen Gamaschen durch den Saal herbei und trat zu ihr, um sie zum Wagen zu geleiten. Die lärmenden jungen Männer wurden still, als sie auf dem Bahnsteig an ihnen vorüberging, und der eine flüsterte einem andern eine Bemerkung über sie zu, natürlich eine abscheuliche Bemerkung. Sie stieg am Wagen die hohe Stufe hinauf und setzte sich in einem Abteil allein auf das mit Sprungfedern versehene, beschmutzte, ehemals weiß gewesene Sofa. Die Reisetasche, die zuerst auf den Sprungfedern hin und her gezittert hatte, legte sich zur Seite. Peter mit seinem dummen Lächeln lüftete vor dem Fenster zum Zeichen des Abschieds seinen betreßten Hut; der freche Schaffner schlug die Tür zu und schloß die Klinke. Eine häßliche Dame mit einer Turnüre (Anna entkleidete dieses Weib in Gedanken und entsetzte sich über ihre schlechte Gestalt) und ein paar junge Mädchen, die geziert lachten, gingen unten schnell vorüber.
     
    »Er ist bei Katerina Andrejewna; er ist immerzu bei ihr, ma tante!« rief das eine der jungen Mädchen.
     
    ›So ein junges Ding, und auch schon so verdorben und so kokett‹, dachte Anna. Um nur niemand zu sehen, stand sie schnell auf und setzte sich in dem leeren Abteil an das gegenüberliegende Fenster. Ein häßlicher Arbeitsmann in schmutzigem Rock, mit einer Dienstmütze, unter der das wirre Haar heraushing, ging an dem Fenster, an dem sie saß, vorüber und bückte sich zu den Rädern des Wagens hinunter. ›Dieser garstige Arbeiter hat irgend

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