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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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etwas Bekanntes an sich‹, dachte Anna. Da fiel ihr ihr Traum ein, und zitternd vor Angst ging sie vom Fenster weg nach der gegenüberliegenden Tür. Der Schaffner öffnete die Tür in diesem Augenblick und ließ einen Herrn mit seiner Frau herein.
     
    »Wünschen Sie auszusteigen?«
     
    Anna antwortete nicht. Der Schaffner und die beiden eingestiegenen Reisenden bemerkten unter dem Schleier nicht den Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht. Sie kehrte in ihre Ecke zurück und setzte sich wieder. Das Ehepaar nahm ihr gegenüber Platz und musterte aufmerksam, aber verstohlen Annas Kleidung. Beide, der Mann wie die Frau, machten auf Anna einen widerwärtigen Eindruck. Der Mann fragte, ob sie ihm erlaube zu rauchen, augenscheinlich nicht sosehr in der Absicht zu rauchen, wie um eine Unterhaltung anzuknüpfen. Als er ihre Erlaubnis er halten hatte, begann er mit seiner Frau auf französisch ein inhaltlich so ödes Gespräch, daß Anna dadurch mehr belästigt wurde als durch das Rauchen. Sie redeten in gezierter Weise lauter Dummheiten, nur damit sie es hören sollte. Anna erkannte deutlich, wie diese beiden Gatten bereits einer des andern überdrüssig geworden waren und wie sie sich wechselseitig haßten. Auch war es ja gar nicht anders möglich, als daß man so klägliche Geschöpfe haßte.
     
    Das zweite Glockenzeichen wurde gegeben, und gleich darauf hörte man das Vorbeifahren des Gepäcks nach dem Gepäckwagen, Lärm, Rufen und Lachen. Daß kein Mensch irgendwelchen Anlaß habe sich zu freuen, darüber war sich Anna so klar, daß dieses Lachen in schmerzhafter Weise ihre Nerven reizte und sie sich am liebsten die Ohren zugestopft hätte, um es nicht zu hören. Endlich ertönte das dritte Glockenzeichen, die Lokomotive pfiff und schnaufte, die Ketten zwischen den Wagen zogen sich unter Gerassel straff, und der Ehemann in Annas Abteil bekreuzte sich. ›Es wäre interessant, ihn zu fragen, was er sich eigentlich dabei denkt‹, dachte Anna und warf ihm einen zornigen Blick zu. Dann blickte sie an der Dame vorüber durch das Fenster nach den Menschen, die Abreisenden das Geleite gegeben hatten und nun, auf dem Bahnsteig stehend, rückwärts zu gleiten schienen. Taktmäßig an den Fugen der Schienen anstoßend, rollte der Wagen, in dem Anna saß, am Bahnsteig vorüber, an einer Steinwand, an der Signalscheibe und an anderen Wagen; nun rollten die Räder glatter und sanfter mit leisem Klang auf den Schienen dahin; das Fenster erglänzte im hellen Schein der Abendsonne, und ein leiser Wind spielte mit dem Vorhang. Anna vergaß ganz ihre Nachbarn im Abteil, und indem sie begierig die frische Luft einsog, überließ sie sich bei dem leisen Schaukeln, das durch die Fahrt hervorgerufen wurde, wieder ihren Gedanken.
     
    ›Ja, wobei war ich doch stehengeblieben? Dabei, daß ich mir keine Lage aussinnen kann, in der das Leben nicht eine Qual wäre, und daß wir alle dazu geschaffen sind, um Qualen zu erleiden, und daß wir das alle wissen und alle uns Mittel erdenken, um uns selbst zu betrügen. Sobald man aber die Wahrheit erkennt, was bleibt einem dann zu tun übrig?‹
     
    »Dazu ist dem Menschen die Vernunft gegeben, damit er sich von dem befreie, was ihn beunruhigt«, sagte die Dame auf französisch; sie war mit dieser leeren Redensart offenbar sehr zufrieden und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
     
    Diese Worte bildeten beinahe eine Antwort auf Annas Gedanken.
     
    ›Damit er sich von dem befreie, was ihn beunruhigt‹, wiederholte Anna bei sich. Sie sah den rotbackigen Gatten und seine hagere Frau an und sagte sich, daß die kränkliche Gattin sich gewiß für eine unverstandene Frau halte und der Mann sie hintergehe und sie dadurch in ihrer Selbstbeurteilung bestärke. Anna meinte, die ganze Lebensgeschichte der beiden und alle Winkel ihrer Seelen deutlich vor sich zu sehen, indem sie gleichsam einen hellen Lichtstrahl darauf richtete. Aber bemerkenswert war dabei eigentlich nichts, und so fuhr sie denn in ihrem Gedankengange fort.
     
    ›Ja, ich fühle eine große Beunruhigung, und dazu ist uns die Vernunft gegeben, damit wir uns davon frei machen; folglich muß ich das eben tun. Warum soll man denn eine Kerze nicht auslöschen, wenn doch nichts mehr da ist, was man sehen möchte, und man sich ekelt, alles das, was man um sich hat, weiter anzusehen? Und wie ekelhaft ist alles! Weshalb ist dieser Schaffner auf dem Trittbrett entlanggelaufen? Weshalb schreien diese jungen Leute da im anderen Wagen?

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