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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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dessen Mitte in diesem Augenblick gerade an ihr vorüberkam; aber die rote Reisetasche, die sie vom Arm nehmen wollte, hielt sie auf, und es war schon zu spät: der Zwischenraum zwischen den Rädern war bereits an ihr vorüber. Sie mußte auf den folgenden Wagen warten. Es überkam sie ein ähnliches Gefühl, wie wenn sie sich beim Baden anschickte, ins Wasser hineinzugehen, und sie bekreuzte sich. Die gewohnte Bewegung bei der Ausführung des Kreuzzeichens rief in ihrer Seele eine ganze Reihe von Erinnerungen aus ihrer Mädchen- und Kinderzeit wach, und plötzlich zerriß die Finsternis, die ihr bisher alles verborgen hatte, und ihr vergangenes Leben stand einen Augenblick lang mit allen seinen hellschimmernden Freuden vor ihrem geistigen Blicke. Aber sie wandte die Augen nicht von den Rädern des herankommenden zweiten Wagens. Und genau in dem Augenblick, wo der Raum zwischen den Rädern ihr gegenüber war, warf sie die rote Reisetasche von sich, drückte den Kopf zwischen die Schultern, ließ sich unter den Wagen auf die Hände fallen und kniete mit einer leichten Bewegung, als ob sie vorhätte, sogleich wieder aufzustehen, nieder. Aber im gleichen Augenblick erschrak sie über das, was sie tat. ›Wo bin ich? Was tue ich? Weshalb?‹ Sie wollte sich erheben, sich zurückwerfen; aber etwas Gewaltiges, Unerbittliches stieß gegen ihren Kopf und schleppte sie am Rücken mit fort. »Herrgott, vergib mir alles!« murmelte sie, da sie fühlte, daß ein Widerstand unmöglich sei. Das Männchen wirtschaftete mit dem Eisenwerk herum und redete dabei etwas vor sich hin. Und die Kerze, bei der sie das von soviel Sorgen, Betrug, Kummer und Schlechtigkeit erfüllte Buch des Lebens gelesen hatte, leuchtete in hellerem Scheine auf als je, erhellte ihr alles, was bisher für sie in Finsternis verborgen gewesen war, knisterte, wurde dunkel und erlosch für immer.
     

ACHTER TEIL
     

1
     
    F ast zwei Monate waren vergangen. Schon war die Mitte dieses heißen Sommers herangekommen, und erst jetzt schickte sich Sergei Iwanowitsch an, Moskau zu verlassen.
     
    In Sergei Iwanowitschs Lebensgang hatten sich während dieser Zeit wichtige Ereignisse zugetragen. Schon vor einem Jahre hatte er sein Buch, die Frucht sechsjähriger Arbeit, zum Abschluß gebracht; es führte den Titel: Versuch einer Übersicht der Grundgedanken und Formen des Staatswesens in Europa und in Rußland. Einige Abschnitte dieses Buches und die Einleitung waren schon vorher in Zeitschriften gedruckt worden, und andere Teile hatte Sergei Iwanowitsch Männern seines Bekanntenkreises vorgelesen, so daß die in diesem Werke enthaltenen Ideen dem Lesepublikum nicht mehr etwas völlig Neues sein konnten; aber dennoch hatte Sergei Iwanowitsch erwartet, daß das Erscheinen seines Buches bei den Gebildeten ein gewisses Aufsehen erregen und wenn auch nicht eine Umwälzung in der Wissenschaft, so doch auf jeden Fall starke Beachtung in der Gelehrtenwelt hervorrufen werde.
     
    Das Buch war, nachdem es mit größter Sorgfalt die letzte Feile erhalten hatte, im vorigen Jahre erschienen und an die Buchhändler versandt worden.
     
    Sergei Iwanowitsch fragte zwar niemanden nach seinem Buch, beantwortete Fragen seiner Freunde nach dessen Absatz nur ungern und mit erheuchelter Gleichgültigkeit und erkundigte sich nicht einmal bei den Buchhändlern danach, ob es viel gekauft werde; aber dennoch wartete er mit scharfem Blick und gespannter Aufmerksamkeit auf den ersten Eindruck, den sein Buch in der gebildeten Gesellschaft und in der Presse hervorbringen werde.
     
    Aber es verging eine Woche, eine zweite, eine dritte, und es war keinerlei Eindruck in der Gesellschaft wahrzunehmen. Mit ihm befreundete Fachmänner und Gelehrte fingen manchmal an, offenbar aus Höflichkeit, von dem Buch zu reden; seine sonstigen Bekannten dagegen, die sich mit Büchern gelehrten Inhalts nicht beschäftigten, sprachen überhaupt nicht davon; und in der Gesellschaft, die besonders in jener Zeit mit ganz anderen Dingen zu tun hatte, zeigte sich äußerste Gleichgültigkeit. Auch in der Presse war einen ganzen Monat lang von dem Buche nicht mit einer Silbe die Rede gewesen.
     
    Sergei Iwanowitsch berechnete genau die Zeit, die nach seiner Ansicht zur Abfassung einer Besprechung erforderlich war; aber es verging nach dem ersten noch ein zweiter Monat, und immer noch dauerte das Stillschweigen fort.
     
    Nur in der »Nordischen Biene« waren in einem humoristischen Aufsatz über den Sänger Drabanti, der

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