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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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römisch-katholischen Schriftstellers und die Kirchengeschichte eines rechtgläubigen Schriftstellers gelesen und daraus ersehen hatte, daß die beiden Kirchen, die doch ihrem Wesen nach unfehlbar sein sollten, sich gegenseitig nicht gelten ließen, da kam er auch von Chomjakows Auffassung des Wesens der Kirche ab, und dieses Gebäude zerfiel ebenso in Staub wie die philosophischen Lehren.
     
    Während dieses ganzen Frühjahrs war er völlig verstört und durchlebte schreckliche Augenblicke.
     
    ›Ohne zu wissen, was ich bin und wozu ich da bin, kann ich nicht leben. Aber zu diesem Wissen kann ich nicht gelangen; folglich kann ich nicht leben‹, sagte sich Ljewin.
     
    ›In der unendlichen Zeit löst sich in der Unendlichkeit der Materie in dem unendlichen Raume ein organisches Bläschen ab, und dieses Bläschen besteht eine Weile und platzt dann, und dieses Bläschen bin ich.‹
     
    Dies war eine qualvolle Unwahrheit; aber es war das einzige, letzte Ergebnis der jahrhundertelangen Denktätigkeit des Menschengeschlechts nach dieser Richtung hin.
     
    Dies war der letzte Glaubenssatz, auf dem sich, auf fast allen Gebieten, alle Forschungen des menschlichen Denkens aufbauten. Dies war die herrschende Überzeugung, und Ljewin hatte unter allen Erklärungsarten unwillkürlich und ohne selbst zu wissen, wann und wie, sich diese als die immerhin noch klarste zu eigen gemacht.
     
    Aber dies war nicht nur eine Unwahrheit, dies war der grausame Hohn einer bösen, feindlichen Macht, einer Macht, der man sich nicht unterwerfen durfte.
     
    Von dieser Macht mußte man sich befreien. Und die Möglichkeit, sich von ihr zu befreien, hatte ein jeder in der Hand. Dieser Abhängigkeit vom Bösen mußte ein Ende gemacht werden. Und dazu gab es nur ein einziges Mittel: den Tod.
     
    Und Ljewin, dieser glückliche Familienvater, dieser kerngesunde Mensch, war einige Male dem Selbstmord so nahe, daß er einen Strick versteckte, um nicht in Versuchung zu kommen, sich daran aufzuhängen, und sich fürchtete, mit einem Gewehr auszugehen, um sich nicht zu erschießen.
     
    Aber Ljewin erschoß sich nicht und erhängte sich nicht, sondern lebte weiter.
     

10
     
    W enn Ljewin darüber nachdachte, was er sei und wozu er lebe, so fand er auf diese Fragen keine Antwort und geriet in Verzweiflung; sobald er aber aufhörte, sich diese Fragen vorzulegen, hatte er die Vorstellung, als wisse er wirklich, was er sei und wozu er lebe; denn er bewies in seiner ganzen Handlungs- und Lebensweise Festigkeit und Sicherheit; in dieser letzten Zeit sogar in noch höherem Grade als früher.
     
    Als er Anfang Juni wieder aufs Land gezogen war, war er auch zu seinen gewohnten Beschäftigungen zurückgekehrt. Die Landwirtschaft, die Beziehungen zu den Bauern und Nachbarn, die Hauswirtschaft, die in seinen Händen liegenden Angelegenheiten seiner Schwester und seines Bruders, das Verhältnis zu seiner Frau und zu den Verwandten, die Sorge um das Kind, die neue Leidenschaft für die Bienenzucht, die er seit diesem Frühjahr eifrig betrieb, all das füllte seine Zeit aus.
     
    Diese Beschäftigungen erfüllten ihn nicht deswegen, weil er sie vor sich selbst durch irgendwelche allgemeinen Gesichtspunkte gerechtfertigt hätte, wie er das früher zu tun pflegte; im Gegenteil, einerseits enttäuscht durch das Mißlingen seiner früheren gemeinnützigen Unternehmungen, anderseits zu sehr in Anspruch genommen durch seine Gedanken und die Menge von Arbeit, die sich von allen Seiten her für ihn aufhäufte, hatte er jetzt alle Gedanken an das Gemeinwohl völlig fallengelassen, und diese Beschäftigungen erfüllten ihn nur deswegen, weil er meinte, es sei seine Pflicht, das zu tun, was er tat, und er könne gar nicht anders.
     
    Früher (und diese Erfahrung hatte fast schon in seiner Kindheit begonnen und sich bis zu seinem vollen Mannesalter immer mehr gesteigert), wenn er sich bemühte, irgend etwas zu tun, was allen, das heißt der ganzen Menschheit oder dem russischen Vaterlande oder dem ganzen flachen Lande, zum Heile gereichen sollte, hatte er die Wahrnehmung gemacht, daß die Gedanken daran sehr vergnüglich waren, die Tätigkeit selbst aber immer ihr Unangenehmes hatte und nicht recht gelingen wollte; es hatte ihm die volle Überzeugung von der unbedingten Notwendigkeit dieser Tätigkeit gemangelt, und die Tätigkeit selbst, die ihm anfangs als etwas so Hohes und Großartiges erschienen, war in seinen Augen immer unbedeutender und nichtiger geworden. Jetzt

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