Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
Vom Netzwerk:
auch noch ein bißchen länger warten konnten; und er wußte, daß, obwohl ihm das Einfangen eines Bienenschwarms außerordentlich viel Vergnügen machte, er auf dieses Vergnügen verzichten, das Einfangen des Schwarmes ohne seine Beteiligung seinem alten Bienenwärter überlassen und hingehen und mit den Bauern reden mußte, die ihn auf dem Bienenstande aufsuchten.
     
    Ob er dabei gut oder schlecht handelte, das wußte er nicht, auf eine Beweisführung ließ er sich jetzt nicht ein, ja, er vermied es sogar, mit anderen darüber zu sprechen und bei sich darüber nachzudenken.
     
    Solche Überlegungen machten ihn nur zweifelnd und hinderten ihn, zu erkennen, was er tun mußte und nicht tun mußte. Wenn er dagegen nicht nachdachte, sondern einfach nur lebte, so fühlte er fortwährend in seiner Seele die Anwesenheit eines unfehlbaren Richters, der die Entscheidung darüber abgab, welche von zwei möglichen Handlungsweisen den Vorzug verdiene, und sobald er einmal nicht so handelte, wie er handeln mußte, fühlte er das sofort.
     
    So lebte er, ohne zu wissen, was er eigentlich sei und wozu er auf der Welt lebe und ohne daß er eine Möglichkeit gesehen hätte, zu dieser Kenntnis zu gelangen; und diese Unwissenheit quälte ihn dermaßen, daß er fürchtete, er würde noch eines Tages Selbstmord begehen. Dabei aber bahnte er sich doch mit aller Festigkeit seinen besonderen, bestimmten Weg im Leben.
     

11
     
    D er Tag, an dem Sergei Iwanowitsch nach Pokrowskoje gekommen, war für Ljewin ganz besonders reich an Mühe und quälenden Gedanken.
     
    Es war die Zeit im Jahre, wo mit der allergrößten Eile gearbeitet werden muß, die Zeit, wo beim ganzen Volke eine so außerordentliche, aufopfernde Anspannung aller Kräfte für die Arbeit in Erscheinung tritt, wie sie in anderen Lebensverhältnissen nicht vorkommt, eine Anstrengung, die sehr hoch bewertet werden würde, wenn die Menschen, die diese trefflichen Eigenschaften an den Tag legen, sie selbst zu schätzen verständen, und wenn sich der gleiche Vorgang nicht alle Jahre wiederholte, und wenn die Ergebnisse dieser Anspannung nicht gar so einfacher Natur wären.
     
    Den Roggen und den Hafer zu schneiden und einzufahren, die Wiesen zu mähen, die Brache aufzuackern, das Korn zu dreschen und die Wintersaat auszusäen, all das sieht so einfach und gewöhnlich aus; aber um mit alledem rechtzeitig fertig zu werden, muß die gesamte Bevölkerung eines Dorfes, alt und jung, diese drei, vier Wochen ohne Unterbrechung dreimal soviel wie gewöhnlich arbeiten, sich dabei von Kwaß, Zwiebeln und Schwarzbrot nähren, bei Nacht die Garben ausdreschen und das Stroh fortschaffen und sich nicht mehr als zwei bis drei Stunden Schlaf für den Tag gönnen. Und so spielt sich das alljährlich in ganz Rußland ab.
     
    Ljewin, der den größten Teil seines Lebens auf dem Lande und in enger Berührung mit dem Landvolke verbracht hatte, fühlte jedesmal in dieser Arbeitszeit, daß die allgemeine Aufregung des Volkes sich auch ihm mitteilte.
     
    Am frühen Morgen dieses Tages war er zur ersten Roggensaat hinausgeritten und zum Hafer, der in Schober zusammengefahren wurde. Dann war er nach Hause zurückgekehrt, hatte mit seiner Frau und mit seiner Schwägerin, die inzwischen aufgestanden waren, Kaffee getrunken und war darauf zu Fuß nach dem Vorwerk gegangen, wo die neu aufgestellte Dreschmaschine zur Gewinnung des Saatkorns in Gang gesetzt werden sollte.
     
    Diesen ganzen Tag über dachte Ljewin, während er mit dem Verwalter und den Bauern und zu Hause mit seiner Frau und mit Dolly und mit ihren Kindern und mit seinem Schwiegervater sprach, immer an den einen Gegenstand, der ihn in dieser Zeit neben seinen wirtschaftlichen Sorgen beschäftigte, und suchte in allem eine Beziehung zu seiner Frage: ›Was bin ich denn? Und wo bin ich? Und wozu bin ich hier?‹
     
    Ljewin stand in dem kühlen Raum der neugedeckten Getreidedarre mit dem noch nicht abgeblätterten, noch duftenden Laubwerk der Dünnlatten aus Hasel, die auf den frisch abgeschälten espenen Sparren des Strohdaches ruhten, und blickte bald durch das offene Tor, in dem der trockene, bittere Staub vom Dreschen umherflog, auf das von der heißen Sonne beschienene Gras der Tenne und auf das frische, soeben aus der Scheune herausgebrachte Stroh, bald nach den buntköpfigen, weißbrüstigen Schwalben, die pfeifend unter das Dach geflogen kamen und mit den Flügeln flatternd in der freien Öffnung des Tores einen Augenblick auf

Weitere Kostenlose Bücher