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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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hatten, eines festen Untergrundes für diese Ablehnung ermangelten und, ohne etwas zu erklären, lediglich die Fragen ablehnten, ohne deren Beantwortung er, wie er fühlte, nicht leben konnte, und sich bemühten, ganz andere, ihn nicht beschäftigende Fragen zu lösen, zum Beispiel die Fragen nach der Entwicklung der Lebewesen, nach einer mechanischen Erklärung der Seele und anderem.
     
    Außerdem hatte sich bei der Entbindung seiner Frau mit ihm etwas für ihn Ungewöhnliches begeben. Er, der Ungläubige, hatte gebetet und in dem Augen blick, wo er betete, auch wirklich geglaubt. Aber jener Augenblick war vorübergegangen, und Ljewin vermochte dieser damaligen Seelenstimmung keine Stelle in seiner geistigen Entwicklung zuzuweisen.
     
    Er konnte nicht zugeben, daß er damals die Wahrheit erkannt hätte und sich jetzt irre; denn sobald er wieder angefangen hatte, ruhig darüber nachzudenken, war alles wieder in Trümmer gefallen. Aber auch das konnte er nicht zugeben, daß er damals in einem Irrtum befangen gewesen wäre; denn seine damalige Seelenstimmung erschien ihm als etwas Hohes, und wenn er sie jetzt als die Wirkung einer Schwäche aufgefaßt hätte, so hätte er das als eine Entweihung jenes Augenblicks empfunden. Er befand sich in einer peinlichen Uneinigkeit mit sich selbst und spannte alle Kräfte seines Geistes an, um aus ihr herauszukommen.
     

9
     
    D iese Gedanken quälten und peinigten ihn bald mehr, bald weniger, ohne ihn jemals ganz zu verlassen. Er las und dachte nach; aber je mehr er las und nachdachte, um so ferner fühlte er sich von dem Ziele, dem er zustrebte.
     
    In der letzten Zeit in Moskau und dann auf dem Lande hatte er, da er zu der Überzeugung gelangt war, daß er bei den Materialisten keine befriedigende Antwort finden werde, Plato, Spinoza, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer teils zum ersten Male, teils von neuem gelesen, also Philosophen, die das Leben nicht in materialistischer Weise erklären.
     
    Die Gedanken, die er dort fand, erschienen ihm fruchtbar, solange er streitbare Einwände gegen andere Lehren, besonders gegen die materialistische, las oder auch selbst aussann; aber sobald er Lösungsversuche jener Fragen las oder selbst erdachte, wiederholte er sich immer ein und dasselbe. Wenn er den Auseinandersetzungen über den Sinn unklarer Worte wie Geist, Wille, Freiheit, Substanz folgte und sich absichtlich in jene Wortfalle hineinbegab, die ihm die Philosophen oder auch er sich selbst aufstellten, so schien es ihm, als fange er an, etwas zu verstehen. Aber er brauchte nur diesen kunstvollen Gedankengang zu vergessen und dann vom wirklichen Leben her zu dem zurückzukehren, was ihn bei der Denktätigkeit, bei der Verfolgung des gegebenen Fadens befriedigt hatte – und auf einmal fiel dieser ganze kunstvolle Bau wie ein Kartenhaus zusammen, und es wurde ihm klar, daß dieser Bau ohne Rücksicht auf etwas, was im Leben noch wichtiger ist als die Vernunft, lediglich durch eine Umstellung ein und derselben Worte errichtet war.
     
    Eine Zeitlang, als er Schopenhauer las, setzte er an die Stelle dessen, was bei diesem Wille heißt, die Liebe, und diese neue Philosophie befriedigte ihn ein paar Tage lang, solange er sich nicht aus ihrem Bannkreise entfernte; aber sie stürzte ganz ebenso wie die anderen Systeme zusammen, als er nun vom Leben aus seinen Blick auf sie richtete, und erwies sich als ein Musselinanzug, der nicht wärmte.
     
    Sein Bruder Sergei Iwanowitsch hatte ihm geraten, Chomjakows theologische Schriften zu lesen. Ljewin las den zweiten Band von Chomjakows Werken, und obgleich ihn anfangs der streitbare, gezierte, witzige Ton abstieß, so machte doch die darin enthaltene Auseinandersetzung über das Wesen der Kirche großen Eindruck auf ihn. Es imponierte ihm anfangs der Gedanke, daß die Erkenntnis der göttlichen Wahrheiten dem einzelnen Menschen nicht vergönnt sei, wohl aber einer Gemeinschaft von Menschen, die durch die Liebe verbunden sei, das heißt der Kirche. Es erfreute ihn der Gedanke, daß es ja doch leichter sei, an die zweifellos bestehende, jetzt lebendige Kirche zu glauben, die alle Glaubenssätze fertig darbiete und Gott zu ihrem Oberhaupte habe und darum heilig und unfehlbar sei, und von ihr den Glauben an Gott, an die Schöpfung, an den Sündenfall und an die Erlösung hinzunehmen, als von Gott anzufangen, diesem fernen, geheimnisvollen Gotte, und von der Schöpfung und so weiter. Als er dann aber die Kirchengeschichte eines

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