Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
jenes künstliche Leben, das Alexei Alexandrowitsch bis jetzt gelebt hatte. Zum ersten Male kam ihm ein Gedanke an die Möglichkeit, daß seine Frau einen anderen lieben könne, und er erschrak tief vor dieser Möglichkeit.
Er kleidete sich nicht aus, sondern ging mit seinem gleichmäßigen Schritte hin und her, über den schallenden Parkettfußboden des Eßzimmers, das nur durch eine Lampe erleuchtet war, über den Teppich des dunklen Salons, wo ein Lichtschimmer nur von seinem eigenen großen Bilde widergespiegelt wurde, das, erst kürzlich angefertigt, über dem Sofa hing, und durch das Zimmer seiner Frau, wo zwei Kerzen brannten und ihr Licht über die Bilder ihrer Verwandten und Freundinnen und über die hübschen, ihm längst wohlbekannten Sächelchen auf ihrem Schreibtische verbreiteten. Durch ihr Zimmer ging er bis an die Tür des Schlafzimmers und kehrte dann wieder um.
Bei jeder Wiederholung dieser Wanderung, und zwar meistenteils auf dem Parkett des erleuchteten Eßzimmers, blieb er stehen und sagte zu sich selbst: ›Ja, es ist unumgänglich nötig, einen Entschluß zu fassen und der Sache ein Ende zu machen; ich muß ihr meine Ansicht darüber und meinen Entschluß mitteilen.‹ Er wandte sich um und ging zurück. ›Aber was soll ich ihr denn eigentlich sagen? Was für einen Entschluß soll ich ihr mitteilen?‹ fragte er sich im Salon und fand darauf keine Antwort. ›Aber schließlich‹, fragte er sich, ehe er in das Zimmer seiner Frau einbog, ›was ist denn eigentlich geschehen? Nichts. Sie hat lange mit ihm gesprochen. Was ist dabei? Warum soll nicht eine Dame in Gesellschaft mit jemandem reden dürfen? Und deswegen eifersüchtig zu sein, das heißt sie und sich selbst erniedrigen‹, sagte er zu sich, während er in ihr Zimmer eintrat. Aber diese Erwägung, die früher bei ihm so stark ins Gewicht gefallen war, hatte jetzt für ihn gar kein Gewicht und gar keine Bedeutung mehr. An der Tür des Schlafzimmers wandte er sich wieder um nach dem Salon zu; aber kaum kam er wieder in den dunklen Salon hinein, so war es, als ob ihm eine Stimme zuflüstere, die Sache verhalte sich doch anders, und wenn es anderen Leuten aufgefallen sei, so folge daraus, daß da doch etwas vorliege. Und dann im Eßzimmer sagte er wieder zu sich: ›Ja, es ist unumgänglich nötig, einen Entschluß zu fassen und der Sache ein Ende zu machen; ich muß ihr meine Ansicht darüber sagen.‹ Und wieder im Salon, ehe er in Annas Zimmer einbog, fragte er sich: ›Welchen Entschluß soll ich denn fassen?‹ Und dann fragte er sich: ›Was ist denn geschehen?‹ und antwortete darauf: ›Nichts‹, und erinnerte sich daran, daß die Eifersucht ein Gefühl sei, durch das man seine Frau herabwürdige; aber wenn er dann wieder im Salon war, kam er doch zu der Überzeugung, daß irgend etwas vorgefallen sei. Seine Gedanken bewegten sich, ebenso wie sein Körper, in einem geschlossenen Kreise, ohne auf etwas Neues zu stoßen. Er bemerkte das, rieb sich die Stirn und setzte sich in Annas Zimmer.
Während er dort auf ihren Tisch blickte, auf dem ein Löscher von Malachit und ein angefangener Brief lagen, nahmen seine Gedanken plötzlich eine andere Richtung. Er begann an Anna selbst zu denken und daran, was sie wohl denken und empfinden möge. Zum ersten Male stellte er sich ihr persönliches Leben, ihre Gedanken, ihre Wünsche vor Augen, und der Gedanke, daß sie ein eigenes, besonderes Leben haben könne und müsse, erschien ihm so furchtbar, daß er sich beeilte, ihn wieder zu verscheuchen. Das war eben jener Abgrund, in den hineinzublicken ihn graute. Sich in die Gedanken und Gefühle eines anderen Wesens zu versetzen, diese geistige Tätigkeit war ihm völlig fremd. Er hielt die geistige Tätigkeit für ein schädliches und gefährliches Spiel der Phantasie.
›Und das Peinlichste ist‹, dachte er, ›daß diese sinnlose Aufregung gerade jetzt auf mich einstürmt, gerade jetzt, da sich mein Werk dem Abschluß nähert (er dachte an ein Unternehmen, an dem er jetzt arbeitete) und da ich vollständiger Ruhe und meiner gesamten geistigen Kräfte bedarf. Aber was ist zu machen? Ich gehöre nicht zu den Menschen, die Unruhe und Aufregung geduldig ertragen und nicht die Kraft haben, ihnen ins Gesicht zu blicken.‹
»Ich muß gründlich überlegen, einen Entschluß fassen und mit der Sache zu Ende kommen«, sagte er laut vor sich hin.
›Nach ihren Gefühlen zu fragen, danach zu fragen, was in ihrer Seele
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