Anna Karenina
selbst gesagt, daß das Volk in materieller Hinsicht auf einer niedrigen Entwicklungsstufe
steht; inwiefern können da die Schulen helfen?«
»Wissen Sie, Sie erinnern mich an die Anekdote von den Ratschlägen, die man einem Kranken gab: ›Sie sollten es
mit einem Abführmittel versuchen.‹ – ›Ich habe eins genommen; aber es ist davon nur noch schlimmer geworden.‹ –
›Versuchen Sie es doch einmal mit Blutegeln.‹ – ›Das habe ich versucht; es ist noch schlimmer geworden.‹ – ›Nun,
dann sollten Sie einfach den lieben Gott bitten, Ihnen zu helfen.‹ – ›Das habe ich auch getan; aber es ist nur noch
schlimmer geworden.‹ So machen auch wir beide es jetzt. Ich rede von Nationalökonomie; Sie sagen: ›Es wird nur
schlimmer.‹ Ich rede von Sozialismus; Sie sagen: ›Es wird nur schlimmer.‹ Ich rede von Bildung; wieder: ›Es wird
nur schlimmer.‹«
»Ja, inwiefern können denn da die Schulen helfen?«
»Sie erwecken bei dem Volke andere Bedürfnisse.«
»Da haben wir's. Gerade das ist es, was ich nie habe begreifen können!« erwiderte Ljewin hitzig. »Auf welche
Weise können die Schulen dem Volke zur Verbesserung seiner materiellen Lage behilflich sein? Sie sagen: die Schulen
und die Bildung erwecken beim Volke neue Bedürfnisse. Um so schlimmer; denn das Volk wird nicht imstande sein,
diese neuen Bedürfnisse zu befriedigen. Und auf welche Weise die Kenntnis des Addierens und Subtrahierens und des
Katechismus dem Volke zur Verbesserung seiner materiellen Lage behilflich sein soll, das habe ich nie begreifen
können. Vorgestern abend traf ich eine Bauersfrau mit einem Säugling und fragte sie, wohin sie ginge. Sie
antwortete: ›Ich bin bei der Hebamme gewesen; das Jungchen hatte den Schreikrampf bekommen; da habe ich es
hingetragen, damit sie es heilen sollte.‹ Ich fragte: ›Wie heilt denn die Hebamme den Schreikrampf?‹ ›Sie setzt das
Kindchen zu den Hühnern auf die Sitzstange und sagt etwas dazu.‹«
»Na, sehen Sie wohl, da sagen Sie es ja selbst! Damit so eine Frau nicht ihr Kind hinträgt, um es auf der
Hühnerstange vom Schreikrampfe heilen zu lassen, dazu sind die Schulen nötig ...« sagte Swijaschski mit vergnügtem
Lächeln.
»Aber nein doch!« erwiderte Ljewin ärgerlich. »Diese Heilmethode benutzte ich ja nur zum Vergleiche mit der
Heilung des Volkes durch Schulen. Das Volk ist arm und ungebildet; das sehen wir ebenso deutlich, wie die
Bauersfrau den Schreikrampf daran erkennt, daß das Kind so schreit. Aber auf welche Weise gegen diesen schlimmen
Zustand, die Armut und den Mangel an Bildung, dem Volke die Schulen helfen sollen, das ist ebenso unbegreiflich,
wie es unbegreiflich ist, auf welche Weise die Hühner auf der Sitzstange gegen den Schreikrampf helfen sollen. Die
Hilfe muß sich gegen die Ursache der Armut des Volkes richten.«
»Na, wenigstens in diesem Punkte stimmen Sie mit Spencer überein, den Sie ja so wenig leiden können; der sagt
auch, die Bildung könne eine Folge größeren Wohlstandes und Wohlbehagens – wie er sich ausdrückt: häufigen Waschens
– sein, nicht aber eine Folge der Kenntnis des Lesens und Schreibens.«
»Nun, sehen Sie, da bin ich ja sehr froh oder vielmehr sehr mißvergnügt, daß ich mit Spencer übereinstimme; aber
zu dieser Erkenntnis bin ich schon längst gekommen. Schulen helfen da nicht; helfen kann da nur eine
wirtschaftliche Einrichtung, bei der das Volk reicher wird und mehr freie Zeit bekommt – dann werden die Schulen
ganz von selbst entstehen.«
»Und doch ist jetzt in ganz Europa der Schulbesuch Pflicht.«
»Aber wie können denn Sie selbst in diesem Punkt mit Spencer einer Meinung sein?« fragte Ljewin.
Aber in Swijaschskis Augen wurde wieder für einen Augenblick jener Ausdruck von Angst sichtbar, und er
antwortete lächelnd:
»Nein, diese Geschichte von dem Schreikrampf ist ausgezeichnet! Und das haben Sie wirklich selbst gehört?«
Ljewin sah, daß es ihm auf diese Weise nicht gelingen werde, den inneren Zusammenhang zwischen dem praktischen
Leben dieses Mannes und seiner Gedankenwelt zu finden. Es war diesem offenbar ganz gleichgültig, zu welchen
Ergebnissen ihn seine Denktätigkeit führte; woran ihm lag, das war eben nur die Tätigkeit des Denkens selbst.
Unangenehm war es ihm allerdings, wenn diese Denktätigkeit ihn in eine Sackgasse führte. Nur das mochte er nicht
leiden und suchte sich dann dadurch zu helfen, daß er die Rede auf irgend etwas Angenehmes und
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