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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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hatte. Konstantin fühlte, daß er
    sich bei diesen Worten hinzudenken sollte: ›Du siehst und weißt, daß es mit mir schlecht steht; wir sehen uns
    vielleicht nicht wieder.‹ Konstantin verstand dies, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen. Er küßte seinen
    Bruder noch einmal; aber er konnte nicht reden und wußte auch nicht, was er ihm hätte sagen sollen.
    Drei Tage nach der Abreise seines Bruders fuhr auch Konstantin Ljewin weg, ins Ausland. Auf der Eisenbahn traf
    er mit Kittys Vetter Schtscherbazki zusammen, und dieser war über Ljewins düsteres Wesen sehr erstaunt.
    »Was hast du denn?« fragte ihn Schtscherbazki.
    »Nichts; nichts Besonderes. Es gibt so wenig Vergnügliches auf der Welt.«
    »Aber wieso? Komm doch mit mir nach Paris, statt nach deinem Mülhausen zu fahren. Du sollst mal sehen, wie
    vergnüglich es da ist.«
    »Nein, damit habe ich schon abgeschlossen. Für mich ist es Zeit zu sterben.«
    »Na, so ein toller Gedanke!« rief Schtscherbazki lachend. »Ich will gerade erst anfangen, so recht zu
    leben.«
    »Ja, so habe ich vor kurzem auch noch gedacht; aber jetzt weiß ich, daß ich bald sterben werde.«
    Was Ljewin da sagte, war in der letzten Zeit seine aufrichtige Überzeugung geworden. Er sah in allem nur den Tod
    oder das Herannahen des Todes. Aber das Unternehmen, das er in die Wege geleitet hatte, interessierte und
    beschäftigte ihn nur um so mehr. Er mußte doch das Leben ausnutzen, ehe der Tod kam. Dunkelheit verhüllte ihm die
    ganze Zukunft; aber gerade infolge dieser Dunkelheit hatte er die Vorstellung, daß der einzige leitende Faden in
    dieser Dunkelheit sein Unternehmen sei, und mit letzter Kraft griff er nach diesem Faden und hielt ihn fest.
Fußnoten
    1 (frz.) Halbpächter.

1
    Karenins, Mann und Frau, fuhren fort, unter demselben Dache zu leben und trafen täglich miteinander zusammen;
    aber sie waren sich vollständig fremd geworden. Alexei Alexandrowitsch hatte es sich zur Regel gemacht, seine Frau
    täglich zu sehen, damit die Dienerschaft keinen Anlaß habe, sich irgendwelche Gedanken zu machen; aber er vermied
    es, das Mittagessen zu Hause einzunehmen. Wronski zeigte sich niemals in Alexei Alexandrowitschs Hause; aber Anna
    traf mit ihm außerhalb des Hauses zusammen, und ihr Mann wußte das.
    Diese Lage war für alle drei qualvoll, und keiner von ihnen wäre imstande gewesen, auch nur einen Tag lang in
    ihr auszuhalten, wenn nicht ein jeder darauf gerechnet hätte, daß diese Lage sich ändern werde, und sich gesagt
    hätte, daß es nur eine zeitweilige, leidvolle Prüfung sei, die vorübergehen werde. Alexei Alexandrowitsch wartete
    darauf, daß diese Leidenschaft vergehen werde, wie ja alles in der Welt vergehe, und daß dann bei allen Leuten
    diese Geschichte in Vergessenheit kommen und sein Name unbefleckt bleiben werde. Anna, durch die diese Lage
    herbeigeführt war und für die sie noch qualvoller war als für die beiden andern, ertrug sie, weil sie nicht nur
    hoffte, sondern fest davon überzeugt war, daß sich alles bald entwirren und klären werde. Sie wußte zwar ganz und
    gar nicht, wodurch diese Entwirrung und Klärung herbeigeführt werden sollte; aber sie war fest überzeugt, daß
    irgendein derartiges Ereignis in allernächster Zeit eintreten werde. Wronski, der sich ihren Anschauungen
    unwillkürlich anschloß, wartete gleichfalls auf irgendein von seinen eigenen Entschließungen unabhängiges
    Geschehnis, durch das alle Schwierigkeiten behoben werden sollten.
    Um die Mitte des Winters verlebte Wronski eine Woche in recht langweiliger Weise. Er war zu einem ausländischen
    Prinzen kommandiert worden, der sich besuchsweise in Petersburg aufhielt, und mußte diesem die Sehenswürdigkeiten
    der Residenz zeigen. Wronski war in seiner äußeren Erscheinung zu würdevollem Auftreten sehr geeignet; außerdem
    verstand er die Kunst, sich in würdiger Weise achtungsvoll zu benehmen, und war am den Verkehr mit solchen hohen
    Herren gewöhnt; daher eben hatte man ihn dem Prinzen beigegeben. Aber er empfand diese Obliegenheit als eine sehr
    unbequeme Last. Der Prinz wollte nichts weglassen, wonach man ihn zu Hause fragen könnte, ob er es auch in Rußland
    gesehen habe; und zweitens hegte er auch persönlich den Wunsch, die russischen Vergnügungen nach Möglichkeit
    durchzukosten. Wronskis Aufgabe war es, ihm in der einen wie in der andern Hinsicht als Führer zu dienen.
    Vormittags fuhren sie umher, um die Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen;

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